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Nachts schlafen die Ratten doch

Gattung/Textsorte
Erscheinungsjahr
1947

Über das Werk

Die im Januar 1947 entstandene Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« von Wolfgang Borchert erzählt von der zufälligen Begegnung eines neunjährigen Jungen mit einem älteren Mann während des Zweiten Weltkriegs inmitten der Trümmerwüste einer Stadt. Der Junge fasst Vertrauen zu dem Mann, der ihn mit einer Notlüge dazu bringt, sich von der sinnlosen Aufgabe zu lösen, seinen unter den Trümmern liegenden toten Bruder vor den Ratten zu beschützen. So gewinnt der Junge wieder neue Hoffnung und Lebensmut.

Das Werk steht im Kontext der insgesamt über 50 Prosatexte, die Wolfgang Borchert ab Anfang 1946 und bis kurz vor seinem Tod am 20. November 1947 verfasst hat. Dies war eine kurze, seiner schweren Krankheit abgerungene und dennoch sehr intensive Schaffenszeit, die mit der Niederschrift der Erzählung »Die Hundeblume« am 21. Januar 1946 begann (vgl. Brinkmann, Königs Erläuterungen S. 9). »Nachts schlafen die Ratten doch« wurde im November 1947 in der Prosasammlung »An diesem Dienstag. Neunzehn Geschichten« veröffentlicht. Alle hier enthaltenen Geschichten spielen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, häufig stehen die Opfer des Krieges im Mittelpunkt.

Im Unterschied zu seinen früheren, eher epigonalen Gedichten, findet Wolfgang Borchert in seinen ab 1946 entstandenen Kurzgeschichten sofort zu einer ganz neuen Ausdrucksweise, einem neuen Stil und einer neuen Sprache. Statt des sentimentalen Pathos des Frühwerks fällt nun eine Bewegung hin zu »lakonisch gehaltener Alltagssprache, zum Ausschnitthaften, zur Technik des Understatements, und zum Spiel mit Aussparung und sorgfältig komponierter Andeutung« (Bellmann, S. 41) auf. 

Hier macht sich der Einfluss der amerikanischen »short story« von Autoren wie Ernest Hemingway, William Faulkner und Thomas Wolfe bemerkbar. Bei ihnen finden die Autoren der als »Trümmerliteratur« bezeichneten, jungen Nachkriegsliteratur wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Alfred Andersch, Günter Eich, Erich Kästner, Hans Werner Richter und Walter Kolbenhoff die Möglichkeit, ihrer Suche nach einem vollkommenen Neuanfang in Inhalt, Form und Sprache nach NS-Diktatur und Weltkrieg mit neuen sprachlichen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Dabei ist zu bemerken, dass Wolfgang Borchert einer der ersten Autoren der jungen Kriegs- und Nachkriegsgeneration war, der nach Kriegsende seine Stimme wiederfand.

»Nachts schlafen die Ratten doch« lässt sich daher wie die anderen Kurzgeschichten des Autors in die »Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur« (vgl. Böll, Werke, Band 6, S. 59) der unmittelbaren Nachkriegsjahre einordnen. Die Kurzgeschichte ist in direkter zeitlicher Nähe zu »Draußen vor der Tür« entstanden. In beiden Werken behandelt Borchert die Themen Krieg, Tod, Verlust der inneren wie äußeren Heimat, das Leiden der Menschen in den zerbombten Städten und Heimkehr aus dem Krieg als flammenden Appell und eindrückliches Mahnmal für den Frieden. Im Gegensatz zu den oft sehr düsteren, auch grausamen Kriegsgeschichten von der Front, lässt sich »Nachts schlafen die Ratten doch« als tröstliche Erzählung mit positivem Ausblick verstehen. Sie ist zwar in der zerstörten Welt zwischen den Trümmern angesiedelt, es können aber neue Hoffnung und Vertrauen durch einfache, echte Menschlichkeit wachsen. 

Aufgrund der sehr präzisen Konzeption der Erzählung, die so gut wie alle Kriterien und Merkmale der Gattung Kurzgeschichte in meisterhafter Perfektion umsetzt, ist »Nachts schlafen die Ratten doch« bis heute als klassisch gewordene Kurzgeschichte auch Schullektüre. Ein Grund dafür ist sicherlich auch die Hauptfigur, ein neunjähriger Junge, dessen Erleben und sprachliche Ausdrucksweise die Geschichte prägen. Schüler*innen können sich mit diesem Protagonisten gut identifizieren und die Kriegs- und Nachkriegszeit durch seine Perspektive nachfühlen. Sie gehört zu den bekanntesten und auch am meisten interpretierten Kurzgeschichten Wolfgang Borcherts und ist gleichzeitig eines der herausragendsten Beispiele für die Trümmerliteratur der frühen Nachkriegszeit.

Veröffentlicht am 26. Mai 2015. Zuletzt aktualisiert am 29. Juli 2023.