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Reigen

Arthur Schnitzlers Schauspiel »Reigen« wurde 1920 in Berlin uraufgeführt; der Erstdruck war bereits 1903 erschienen. Der Autor porträtiert die Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende und ihre heuchlerische Sexualmoral. Der Klassiker des Wiener Fin de Siècle unterteilt sich in zehn Dialoge und folgt der Tanzform des Reigens: Fünf Frauen und fünf Männer begegnen sich paarweise, wobei eine […]

Werkdaten

Titel
Reigen
Gattung/Textsorte
Erscheinungsjahr
1903
Uraufführung
1920
Originalsprache
Deutsch
Literarische Epoche oder Strömung

Inhaltsangabe

Arthur Schnitzlers Schauspiel »Reigen« wurde 1920 in Berlin uraufgeführt; der Erstdruck war bereits 1903 erschienen. Der Autor porträtiert die Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende und ihre heuchlerische Sexualmoral. Der Klassiker des Wiener Fin de Siècle unterteilt sich in zehn Dialoge und folgt der Tanzform des Reigens: Fünf Frauen und fünf Männer begegnen sich paarweise, wobei eine der beiden Personen in der nächsten Szene jeweils einer neuen Person die Hand reicht. Am Ende wird der Reigen mit der erstgenannten Person geschlossen. Die Paare sind durch sexuelle Begierde vorübergehend verbunden. Alle Szenen laufen auf den Koitus zu, schildern den Akt aber nicht. Im Text wird er als eine Folge von Gedankenstrichen dargestellt.


Die Dirne und der Soldat

Die Dirne Leocadia folgt spätabends an der Augartenbrücke einem Soldaten und bietet ihm unentgeltlich ihre Dienste an. Da ihm der Weg zu ihrer Wohnung zu weit ist, gehen sie hinunter ans Donauufer. Nach dem Geschlechtsakt hat der Soldat es eilig, in die Kaserne zu kommen. Seinen Namen gibt er nicht preis; Leocadias Bitte um Geld begegnet er mit Spott.

Der Soldat und das Stubenmädchen

Der Soldat Franz drängt das Stubenmädchen Marie am Sonntagabend nach dem Tanz vom Wurstelprater aus in die dunklen Alleen. Marie fürchtet sich und will zurück; Franz zieht sie weiter. Nach der Kopulation hat Franz es eilig, zurück in den Prater zu kommen. Marie wünscht sich, nach Hause begleitet zu werden, doch Franz will weiter tanzen. Er nimmt sich eine neue Partnerin und speist Marie mit einem Bier ab.

Das Stubenmädchen und der junge Herr

An einem heißen Sommernachmittag sind der junge Herr Alfred und das Stubenmädchen Marie allein im Haus. Alfred liegt auf dem Diwan und klingelt unter stets neuen Vorwänden nach Marie. Schließlich lässt er sie nähertreten und öffnet ihre Bluse. Marie ziert sich und warnt Alfred vor möglichem Besuch. Erst nach dem Koitus werden sie durch ein Läuten an der Tür gestört. Als niemand erscheint, will Marie das Schäferstündchen fortsetzen. Doch Alfred weist sie kühl ab.

Der junge Herr und die junge Frau

Herr Alfred trifft aufwändige Vorbereitungen für den Besuch der jungen Frau. Die verheiratete Emma erscheint tiefverschleiert und gibt vor, nur kurz bleiben zu wollen. Nervös erinnert sie Alfred an sein Versprechen, »brav« zu sein; dieser zerstreut ihre Bedenken mit seinem Liebesgeflüster und trägt sie ins Schlafzimmer. Für seine ausbleibende Erektion findet er wortreiche Erklärungen. Emma reagiert zunächst mit leiser Ironie, doch dank ihrer Einfühlsamkeit gelingt der Koitus schließlich doch. Sie treffen weitere Verabredungen; Alfred ist stolz auf sein Verhältnis »mit einer anständigen Frau«.

Die junge Frau und der Ehemann

Zu Emmas Erstaunen hat ihr Gatte Karl am Abend Lust, mit ihr zu schlafen. Meistens sehnt sie sich vergeblich danach. Im Bett erläutert Karl, dass sich in einer Ehe Freundschaft und Begehren abwechseln müssen, um die Leidenschaft zu erhalten. Um Frauen achten zu können, erwartet Karl von ihnen Anständigkeit und Treue. Unterschiedliche sexuelle Erfahrungen zu machen sei ein Vorrecht der Männer. Nach dem Beischlaf äußert Emma den Wunsch nach mehr Sex in der Ehe; Karl beschwichtigt sie.

Der Ehegatte und das süße Mädel

Der verheiratete Karl hat das neunzehnjährige süße Mädel in das Chambre Séparée einer Gaststätte eingeladen. Das Mädchen gibt sich unschuldig und Karl macht es betrunken. Nach dem Geschlechtsverkehr ist Karl besorgt wegen seiner Unvorsichtigkeit. Trotzdem ist er zu einer Liaison mit seiner Zufallsbekanntschaft bereit. Den zeitlichen Rahmen will er vorgeben; von dem Mädchen verlangt er einen moralischen Lebenswandel.

Das süße Mädel und der Dichter

Der erfolgreiche Dichter Robert hat das süße Mädel nach einem Spaziergang mit in sein Zimmer genommen. Die Einfachheit des Mädchens inspiriert den Künstler und Ästheten. Sein Ruhm interessiert das Mädchen nicht. Es hat keinen Sinn für Poesie und kann seinen Fantasien nicht folgen. Aber es zieht sich bereitwillig aus und lässt sich von Robert verführen. Danach will der Dichter das Mädchen vorübergehend zu seiner Muse machen. Um ihre Empfänglichkeit für seine Kunst zu testen, schickt er sie zu einem seiner Stücke ins Burgtheater.

Der Dichter und die Schauspielerin

Der Dichter verbringt mit der Schauspielerin ein Wochenende auf dem Land, um eine Affäre zu beginnen. Die Diva behandelt den Dichter herablassend und quält ihn mit dem Wechsel von Lockung und Zurückweisung. Sie spricht von ihrer großen Liebe Fritz und nennt Robert eine Laune. Nach dem Akt fährt sie fort, den Dichter zu erniedrigen. Dieser verletzt sie seinerseits, indem er erzählt, ihre letzte Vorstellung nicht besucht zu haben. Daraufhin gesteht sie ihm ihre Liebe.

Die Schauspielerin und der Graf

Der Graf erhält Zutritt zum Schlafzimmer der Schauspielerin. Diese liegt wegen einer Unpässlichkeit mittags im Bett. Sie gefällt sich in der Pose des lebensüberdrüssigen und menschenfeindlichen Stars. Der nachdenkliche Graf und Misanthrop fühlt sich verstanden. Er bleibt zurückhaltend und plant ein Rendezvous für den Abend, doch die Schauspielerin zieht ihn an sich. Nach dem Koitus ist der Graf erneut vornehm, will den Gefühlen Zeit geben und das nächste Treffen hinausschieben. Die Schauspielerin bestellt ihn jedoch für den denselben Abend ein, um erneut Sex zu haben.

Der Graf und die Dirne

Der Graf erwacht am Morgen im schäbigen Zimmer der Dirne Leocadia. In einem inneren Monolog versucht er, die durchzechte Nacht zu rekonstruieren. Seine Erinnerung ist lückenhaft. Bevor er sich davonstehlen kann, erwacht Leocadia. Sie erzählt dem Grafen von ihrem Leben als Prostituierte. Ratlos fragt er, ob sie glücklich sei. Er findet den Gedanken reizvoll, in der Nacht keusch gewesen zu sein. Leocadia zerstört seine Illusion und erzählt, dass sie Verkehr miteinander gehabt hätten.


Die Wiener Gesellschaft um 1900 war von Privilegien und Vorurteilen der Männer dominiert. Das sozialkritische Werk stellt die doppelbödige Sexualmoral zur Zeit des Fin de siècle an den Pranger. Zur Zeit seiner Veröffentlichung galt »Reigen« als skandalös; aus heutiger Sicht hingegen erscheint Arthur Schnitzler als Meister des Takts und der Diskretion. Er schildert nur die Gier vor sowie die Ernüchterung nach dem Geschlechtsakt. Dieser wird so zu einem abstrakten Geschehen, dem sich die Protagonisten unterordnen. Das Bühnenstück zählt zur Literatur der Wiener Moderne.

Veröffentlicht am 24. Februar 2015. Zuletzt aktualisiert am 27. September 2022.

Autor des Werkes

Österreichischer Schriftsteller
Der große österreichische Dramatiker, Erzähler und Arzt Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 in der Praterstraße in Wien als Sohn der musikalisch interessierten Louise Schnitzler (1838–1911) und des Arztes Johann Schnitzler (1835–1893) geboren. Auch er selbst absolviert nach dem Gymnasium ein m…

Entstehung und Rezeption

Entstehung von 1896 bis 1897

Arthur Schnitzler verfasste das Drama unter dem Arbeitstitel »Liebesreigen« in nur drei Monaten von November 1896 bis Februar 1897, wie seine Tagebuchaufzeichnungen belegen. Der Autor selbst war der Meinung, dass das Buch »undruckbar« sei und es nie »etwas Unaufführbareres gegeben« habe (in Briefen an Olga Waissnix und Otto Brahm).

Wegen des zu erwartenden Vorwurfs der »Unzüchtigkeit« und der möglichen Konfiszierung des Werks zögerte Schnitzler mit der Veröffentlichung. Sein Verleger Samuel Fischer und dessen Anwalt teilten seine Bedenken. Erst im Frühjahr 1900 ließ Schnitzler den Text unter dem unverfänglicheren Titel »Reigen« als Privatdruck in einer Auflage von 200 Stück publizieren. Drei Jahre später erschien er im »Wiener Verlag«.

Buchveröffentlichung 1903

Wie erwartet löste »Reigen« eine Welle der Empörung aus. Diese hatte ihren Grund nicht nur in der vermeintlichen »Unsittlichkeit« des Buches, vielmehr demaskiert Arthur Schnitzler die damalige Wiener Gesellschaft und deckt gnadenlos deren soziale und moralische Missstände auf. 1904 wurde das Buch in Leipzig und 1905 in Berlin beschlagnahmt.

Trotz vernichtender Kritik und Zensur erreichte das Werk hohe Auflagen. Noch zu Lebzeiten des Autors wurden 100.000 Bücher gedruckt und verkauft. Einer Bühnenvorstellung des Stücks wollte Schnitzler – trotz finanziell verlockender Angebote – lange Zeit nicht zustimmen. Gleichwohl wurde es ohne Genehmigung des Autors mancherorts ganz oder auszugsweise gespielt.

Uraufführung in Berlin 1920

Erst am 23. Dezember 1920 fand die offizielle Uraufführung im Kleinen Schauspielhaus in Berlin statt. Ungeachtet eines gerichtlichen Verbots und Haftandrohung für den Fall der Übertretung brachte die Direktorin Gertrude Eysoldt den »Reigen« am Abend auf die Bühne. Das Publikum unterstützte ihre Entscheidung und sogar der erwartete Skandal in Presse und Kritik blieb zunächst aus. Am 3. Januar 1921 wurde das Verbot aufgehoben.

In den folgenden Wochen fanden weitere Aufführungen im In- und Ausland statt. Nennenswerte Zwischenfälle gab es nicht.

Premiere in Wien 1921

Am 1. Februar 1921 hatte der »Reigen« in Wien in den Kleinen Kammerspielen Premiere und löste einen wahren Mediensturm aus. Auch politische Parteien und die Kirchen nahmen an der kontroversen Debatte teil. Der Literaturwissenschaftler Alfred Pfoser bezeichnete den Skandal um den »Reigen« als einen »Stellvertreterkrieg zur Restaurierung der Moral«. Die Vorstellung am 14. Februar war von heftigen Tumulten und Prügeleien begleitet. Der Autor und auch die Darsteller wurden bedroht und beschimpft. Antisemitische Stimmen wurden lauter und prangerten Schnitzler als »Pornograph« und »jüdischen Schweineliterat« an.

Aufführungsverbot von 1922 bis 1982

Die polemischen Angriffe gegen den »Reigen« und seinen Autor – nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin und andernorts – nahmen kein Ende. Im September 1921 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Direktion des Kleinen Schauspielhauses, den Regisseur und die Darsteller wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Obwohl das Verfahren mit einem Freispruch endete, bat der Autor den S. Fischer Verlag als Inhaber der Rechte, keine weiteren Aufführungen des Stücks zu genehmigen. Dieses Aufführungsverbot wurde von Schnitzlers Sohn Heinrich über den Tod seines Vaters hinaus verlängert.

Bereits 1950 adaptierte Max Ophüls den auf der Bühne verbotenen »Reigen« mit seinerzeit berühmten Stars des französischen Films wie Danielle Darrieux oder Simone Signoret. Das Werk wurde für zwei Oscars nominiert. Im Jahre 2011 inspirierte Schnitzlers Drama in zehn Dialogen Peter Morgan (Drehbuch) und Fernando Meirelles (Regie) zu dem Episodenfilm »360 – Jede Begegnung hat Folgen«.

Aufhebung des Verbots am 1. Januar 1982

In den Jahren nach der Aufhebung des Verbots galt das Interesse ebenso sehr dem Stück selbst wie dem Skandal, den es zu Beginn des Jahrhunderts ausgelöst hatte. Zahlreiche große und kleinere Bühnen haben den »Reigen« seit 1982 aufgeführt. Eine der jüngeren Inszenierungen brachte Michael Thalheimer 2009 im Hamburger Thalia-Theater auf die Bühne. Für die Eröffnungspremiere der Schwetzinger Festspiele 2014 inszenierte der Schweizer Regisseur Georges Delnon Bernhard Langs Oper »Re:igen«, die nach der Vorlage von Schnitzlers Stück entstand. Die Reaktionen des Publikums bewegten sich zwischen Irritation und Begeisterung.

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