Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte »Die Kirschen« schildert eine Alltagsepisode im Nachkriegsdeutschland. Im Mittelpunkt steht ein fieberkranker Junge, der seinen Vater fälschlicherweise des Diebstahls an einem Glas Kirschen verdächtigt. Angaben zu Handlungsort oder -zeit werden nicht gemacht. Die Erzählung entstand im Spätsommer 1947, also wenige Monate vor Wolfgang Borcherts Tod. Sie zählt zur Trümmerliteratur und wurde 1948 erstmals veröffentlicht. In Buchform erschien sie 1962 in der Sammlung »Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß«.
Ein Junge liegt krank im Bett und hört nebenan etwas zu Bruch gehen. Sogleich vermutet er, dass es sich dabei um das Glas mit Kirschen handelt, das wegen seines Fiebers für ihn kalt gestellt worden war. Mühsam steht er auf und schleppt sich ins Nebenzimmer. Dort sieht er seinen Vater auf dem Boden sitzen. Die Flüssigkeit, die ihm über die Hand läuft, hält der Junge für Kirschsaft.
Die Gedanken des Jungen kreisen um die Kirschen, die der Vater ihm vermeintlich weggegessen hat. Als dieser ihn bemerkt, schickt er ihn besorgt zurück ins Bett. Der Vater erklärt, er sei ausgerutscht und habe sich die Hand an den Scherben einer Tasse verletzt. Jetzt komme er nicht mehr auf die Beine. Wieder schickt er seinen Sohn zurück ins Bett. Er verspricht ihm, gleich die Kirschen zu bringen, die noch vor dem Fenster kühl stehen.
Als der Vater mit den Kirschen erscheint, versteckt der Junge seinen Kopf unter der Bettdecke.
Die Kurzgeschichte ist in einer klaren Sprache und in einfachen, knappen Sätzen verfasst. Damit ist sie typisch für die jungen Autoren der Trümmer- und Kahlschlagliteratur: Nach den Schrecken des Krieges konnte nicht mehr »schön« erzählt werden. Als Wolfgang Borchert »Die Kirschen« verfasste, war er selbst schon bettlägerig krank. Es wird angenommen, dass der Autor persönliche Erfahrungen thematisierte. In seiner Monographie über Borchert (Rowohlt, 1961) stellte der Schriftsteller Peter Rühmkorf zudem eine Verbindung zwischen der vorliegenden Kurzgeschichte und Borcherts problematischer Beziehung zu seinem eigenen Vater her.