»Im Krebsgang« ist eine 2002 erschienene Novelle des deutschen Schriftstellers Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger thematisiert den Untergang des deutschen Flüchtlingsschiffes »Wilhelm Gustloff« im Januar 1945 vor der pommerschen Küste. Dieser forderte geschätzte 9000 Menschenleben.
In seinem neun Kapitel umfassenden Werk vermischt Grass reale und fiktionale Ereignisse und Charaktere sowie verschiedene Handlungsstränge aus Vergangenheit und Gegenwart. Dabei bewegt er sich »im Krebsgang« – seitlich oder rückwärts ausscherend, aber trotzdem oder gerade deshalb vorwärts kommend.
Zu den fiktionalen Charakteren zählen der Ich-Erzähler der Novelle, der Journalist Paul Pokriefke. Dieser wurde am 30. Januar 1945, dem Tag des Untergangs der Gustloff, geboren. Paul erzählt die Geschichte gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Bei seinen Bemühungen, die Ereignisse aufzuschreiben, wird er von einem nicht namentlich genannten »Alten« begleitet. Dabei handelt es sich, soviel wird klar, um einen Schriftsteller. Der macht sich große Vorwürfe, dass er und seine Generation zu lange geschwiegen und damit eine angemessene Aufarbeitung der Geschehnisse verhindert hätten.
Wichtige Personen in der Novelle sind Pauls Mutter Tulla Pokriefke, welche die letzte Fahrt des ehemaligen »Kraft-durch-Freude«-Passagierschiffes überlebte, sowie um seinen jugendlichen Sohn Konrad. Die realen Biographien Wilhelm Gustloffs und David Frankfurters spielen ebenso eine essentielle Rolle.
Zu Beginn der Novelle wird der Leser mit dem tödlichen Attentat vertraut gemacht, das der Rabbinersohn David Frankfurter 1936 auf den NSDAP-Funktionär Wilhelm Gustloff verübte. Außerdem wird die Person des Alexander Marinesko vorgestellt, Kapitän des sowjetischen U-Bootes S13, welches das Schiff »Wilhelm Gustloff« knapp neun Jahre später torpedierte.
Durch seine Mutter war Paul von Kindheit an immer wieder mit dem Schicksal des Schiffes konfrontiert worden. In Kapitel zwei stößt Paul 1996 im Zuge seiner Recherchen über das Unglück auf die Internetseite »blutzeuge.de«. Unter dem Schlagwort »Kameradschaft Schwerin« kanonisieren dort offenbar rechte User wie einst die Nazis den ermordeten Wilhelm Gustloff als »Blutzeugen der Bewegung«. Insbesondere wird der Ich-Erzähler Zeuge virtueller Auseinandersetzungen zwischen dem User »Wilhelm« und dessen Gegenspieler, einem selbsterklärten Juden, genannt »David«.
Sprünge in die Vergangenheit erzählen von der Beerdigung Wilhelm Gustloffs und der Entstehungsgeschichte des nach ihm benannten Kreuzfahrtschiffes der nationalsozialistischen Organisation »Kraft durch Freude«. Des Weiteren erfährt der Leser von der gescheiterten Ehe Pauls und der distanzierten Beziehung zu seinem Sohn Konrad.
Im dritten Teil wird angedeutet, dass Tulla Pokriefke, für die das Thema Gustloff ihr Leben lang von überragender Bedeutung blieb, in vielerlei Hinsicht großen Einfluss auf ihren Enkel Konrad gehabt zu haben scheint. Ich-Erzähler Paul beginnt zu ahnen, wer hinter der Seite »blutzeuge.de« steckt.
Ein erneuter Abstecher in die Vergangenheit im nächsten Kapitel verfolgt, wie die Gustloff zu Beginn des Krieges vom Ausflugs- zum Lazarettschiff umfunktioniert wird. Weiter wird deutlich, dass Pauls Sohn Konrad das übermäßige Interesse an der Gustloff-Geschichte mit seiner Großmutter teilt, besonders seit er Vater und Großmutter Mitte der 90er Jahre zu einem Treffen der Gustloff-Überlebenden begleitet hat.
Im fünften Kapitel wird der Leser schließlich versetzt in die Nacht des Schiffsuntergangs Anfang 1945. Tausende Ostpreußen fliehen vor der Roten Armee gen Westen. Am 30. Januar legt die mit etwa 10,000 Flüchtlingen völlig überfüllte Gustloff von Gotenhafen ab, unter den Passagieren auch die schwangere Tulla.
Kapitel sechs beschreibt, wie das Schiff von Marineskos U-Boot torpediert wird, was Tausenden Passagiere den Tod bringt. Das Torpedoboot »Löwe« kann ein paar Hundert Menschen retten, unter ihnen Tulla, die in derselbigen Nacht ihren Sohn Paul gebiert.
Der Weg des Attentäters David Frankfurter nach seiner Haftentlassung kurze Zeit später, sowie Marineskos weiteres Schicksal werden in Kapitel 7 skizziert. Am 20. April 1997 kommt es zum Zusammentreffen der virtuellen Bekannten »Wilhelm« und »David«, im wahren Leben Konrad »Konny« Pokriefke und Wolfgang Stremplin. An der Wilhelm-Gustloff-Gedenkstätte wird Wolfgang von Konrad erschossen. Konrad begründet die Tat mit der Tatsache, dass er Deutscher sei.
Im vorletzen Kapitel wird Konrad der Prozess gemacht. Tulla Pokriefke bemüht sich, ihren Enkel zu verteidigen. Ausführlich erklärt sich Konny selbst vor Gericht und scheint keine Reue zu zeigen. Er wird zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt.
In Kapitel neun stößt Paul Pokriefke kurze Zeit später im Internet auf eine Website namens »kameradschaft-konrad-pokriefke.de«.
Die Novelle »Im Krebsgang« thematisiert eindringlich die nicht zu unterschätzende und damit potenziell gefährliche Faszination und Anziehungskraft, die noch heute von all dem ausgeht, was mit dem Dritten Reich in Verbindung steht. Sie weist hin auf die unbedingte Notwendigkeit einer vernünftigen und sensiblen Aufarbeitung und erinnert daran, wie gewisse Denkansätze der NS-Zeit auch in unserer heutigen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fallen können.
Diese Parallelen werden dem Leser durch die von Günter Grass gewählte Erzählstrategie geschickt vor Augen geführt. Das Hin- und Herspringen des Erzählers zwischen den unterschiedlichen Handlungssträngen aus Kriegstagen und den Ereignissen aus dem späten 20. Jahrhundert führt dazu, dass gegen Endes des Buches beide Erzählteile gleichzeitig kulminieren.