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Bahnwärter Thiel

Titel
Bahnwärter Thiel
Gattung/Textsorte
Erscheinungsjahr
1888
Originalsprache
Deutsch
Literarische Epoche oder Strömung

Über das Werk

»Bahnwärter Thiel« ist eines der ersten Werke des späteren Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann. Es handelt von einem stillen und arbeitsamen Bahnwärter im Preußen des 19. Jahrhunderts, der seinen Dienst an der Strecke zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder versieht. Thiel ist aber auch ein psychisch kranker Mensch, der schließlich, nachdem er seinen erstgeborenen Sohn bei einem Zugunglück verliert, seine Frau und den Zweitgeborenen in geistiger Umnachtung umbringt.

»Bahnwärter Thiel« gilt als bedeutendes Werk der literarischen Strömung des Naturalismus. Gleichzeitig weist die Novelle aber auch deutlich über den Naturalismus hinaus. So weist die amerikanische Germanistin Alyssa Howards darauf hin, dass »Bahnwärter Thiel« einerseits an den Diskurs des Realismus anknüpft, andererseits dem Naturalismus und der beginnenden klassischen Moderne verpflichtet ist, gleichzeitig aber auch an der Tradition des Märchens teilhat (Byram 142).

Die Novelle entstand 1887 während Hauptmanns Leben in Erkner nahe Berlin, wo er mit Bahnwärtern in Kontakt gekommen war (Burkhardt 13). 1888 erschien die Novelle unter dem Titel »Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst« in der von Michael Georg Conrad herausgegebenen naturalistischen Zeitschrift »Die Gesellschaft« (34). Hauptmann selbst sagte über Entstehung und Publikation der Novelle: »Während mein zweiter Sohn geboren wurde, schrieb ich an einer Novelle Bahnwärter Thiel, die ich späteren Frühjahr beendete. Sie wurde von Michael Georg Conrad in München erworben und in seiner Zeitschrift abgedruckt. Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten« (zitiert nach: Post 44).

Aus dem – vorübergehenden – Skandalautor (vgl. Schwab-Felisch 73) sollte später der »letzte große Dichter [werden], dem sein Deutschsein so selbstverständlich und unproblematisch vorkam wie etwa sein Wuchs oder seine Haarfarbe« (Leppmann, 2007, 7). Aufgrund seiner mangelnden Distanzierung von den Nationalsozialisten während seiner letzten Lebensjahre galt Hauptmann lange Zeit vor allem in linken Kreisen als Opportunist (vgl. Spiegel).

Die Novelle vom Bahnwärter Thiel liest sich aber nichtsdestotrotz als packende Geschichte, die hinsichtlich ihrer zentralen Themenkomplexe nur wenig von ihrer Aktualität eingebüßt hat. »Bahnwärter Thiel« ist eine Geschichte über die Abhängigkeit von anderen und den Verlust geliebter Menschen; eine Geschichte von Schuld, Trauer, Wahnsinn und Tod. Es geht darin um Vaterliebe, das Verhältnis von Mann und Frau und die Stellung des Menschen in der von ihm selbst technifizierten Welt. Nicht zuletzt ist es eine Geschichte, die die Fragilität jeder menschlichen Existenz aufzeigt und einmal mehr verdeutlicht, wie schmal der Grat zwischen selbstherrlicher Vernunft und alles verzehrendem Wahnsinn sein kann. Das gelingt Hauptmann durch eingehende Naturbeschreibungen und genaueste Beobachtungsgabe, die sich nicht in verklärendem Psychologismus verliert, sondern die Außenseite, die Handlung also in den Fokus rückt. 

»Bahnwärter Thiel« ist einerseits eine klassische Novelle, die sich am typischen Aufbau einer Tragödie orientiert. Genau das verschafft der Novelle ihre Lebendigkeit und lässt die Spannung niemals abflauen. Gleichzeitig ist durch die Bezeichnung »novellistische Studie« zum Ausdruck gebracht, dass es sich um die naturgetreue – eben: naturalistische – Schilderung eines spezifischen Milieus handelt. Der treue Kleinbürger Thiel avanciert so einerseits zum Helden, erweist sich gleichzeitig aber als durch sein Umfeld und seine Anlagen geprägten Anti-Helden. Damit steht die Novelle genau auf der Schwelle zwischen der Literatur des 19. und der des 20. Jahrhunderts. Genau diese Scharnierstellung macht einen nicht unerheblichen Teil des Reizes dieser Geschichte aus.

Veröffentlicht am 25. Januar 2010. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.

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