»Halbschatten« ist ein 2008 erschienener Roman von Uwe Timm. Er kreist um das Leben der deutschen Sportfliegerin Marga von Etzdorf, die sich 1933 mit 25 Jahren im syrischen Aleppo das Leben nahm. Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung besucht in den 1990er Jahren den Berliner Invalidenfriedhof. Er hört, wie die hier Begrabenen, darunter auch Marga, ihre Geschichten erzählen.
Mit den teils historischen, teils erfundenen Sprechern wird ein zeitlicher Bogen vom Preußen Friedrichs II. bis zur deutschen Wiedervereinigung gespannt. Es sind Gefallene der Befreiungskriege wie Scharnhorst, NS-Verbrecher wie Heydrich oder namenlose Opfer des Zweiten Weltkrieges. Aus der Collage ihrer Stimmen erschließt sich Margas Lebensgeschichte und eine mögliche Erklärung für ihren Selbstmord. Die Handlungsorte reichen von Europa über Nordafrika bis nach Asien.
Das literarische Verfahren, das dem Roman zugrundeliegt, nennt man Collage. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Bildenden Kunst und wurde später auf andere Kunstgattungen übertragen. Er geht auf das französische Verb »coller« (deutsch: kleben) zurück.
Marga von Etzdorfs Lebensgeschichte wird nicht durchgängig erzählt. Ihre Stimme wird immer wieder von den Stimmen anderer Figuren unterbrochen. Auch diese berichten ihre Geschichten nur bruchstückhaft und unzusammenhängend. Zusätzlich ist dokumentarisches Material, z. B. aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, in den Roman eingearbeitet. Aus diesem Textmosaik muss der Leser Margas Geschichte herausfiltern.
Marga von Etzdorf ist Lufthansa-Copilotin und Kunstfliegerin, bevor sie um 1930 als Sportfliegerin Furore mit Langstreckenflügen macht. Ihre schärfste Konkurrentin ist die Engländerin Amy Johnson. Marga sticht sie aus, als sie 1931 als erste Frau von Europa nach Japan fliegt. Bei ihrer Landung in Hiroshima wird sie gefeiert.
Sie lernt den Schauspieler Anton Miller, der sie erfolglos umwirbt, und den Diplomaten und Ex-Kampfflieger Christian von Dahlem kennen. Dahlem lädt Marga in das Haus eines japanischen Freundes ein. Durch einen Vorhang getrennt, übernachten sie im selben Zimmer. Eine Nacht lang unterhalten sie sich im Halbschatten über ihr Leben und ihre Flüge.
Für Dahlem bedeutet das Fliegen vor allem technischen Fortschritt. Er schätzt die damit verbundenen praktischen Möglichkeiten. Darum interessiert ihn Margas romantische Flugbegeisterung, die ihm selbst fremd ist. Ihre Abenteuerlust und ihr Mut gefallen ihm.
1933 wurden unter dem Titel »Kiek in die Welt« posthum die Beschreibungen veröffentlicht, die Marga von Etzdorf von ihren Flügen gemacht hat. Uwe Timm hat sich nach eigener Aussage bei der Darstellung ihrer Flüge nach Japan und zu den Kanarischen Inseln auf dieses Buch gestützt. »Kiek in die Welt« war der Name von Marga von Etzdorfs Flugzeug. Ihr Grabstein auf dem Berliner Invalidenfriedhof trägt die Inschrift: »Der Flug ist das Leben wert«.
Dahlems Gefühle für Marga sind freundschaftlich; sie hingegen begehrt ihn. Ihre Sehnsucht nach körperlicher Begegnung bleibt unerfüllt. Die folgenden Tage verbringt sie mit ihm und dem witzigen Miller, der ihr ein guter Freund wird. Bei ihrer Abreise schenkt Dahlem ihr ein Zigarettenetui, in dem der Splitter eines Projektils steckt. Es hat ihm im Ersten Weltkrieg das Leben gerettet, weil es, in seiner Brusttasche steckend, ein Geschoss aufgehalten hat.
Auf ihrem Rückflug misslingt Marga der Start nach einer Zwischenlandung in Bangkok. Sie macht eine Bruchlandung, bereits die zweite in ihrer Karriere. Zurück in Berlin, plant sie einen Flug nach Australien, kann jedoch das Geld dafür nicht auftreiben. Als Dahlem ein Jahr nach ihrer Begegnung überraschend bei ihr auftaucht, erzählt sie ihm von ihren finanziellen Schwierigkeiten. Er schlägt ihr vor, in den Waffenschmuggel einzusteigen.
Zu den Kontakten, die er ihr dafür verschafft, gehört Hauptmann Heymann. Heymann will Margas Flüge für NS-Propagandazwecke und Spionageakte nutzen. Er nötigt sie, auf ihrem Flug eine Kamera mitzunehmen, um englische und französische Militäranlagen zu fotografieren.
Am 28. Mai 1933 startet Marga ihren Flug nach Australien. Am zweiten Flugtag schießt sie bei der Landung in Aleppo über die Piste hinaus. Am syrischen Flughafen zieht sie sich in ein Zimmer im Flughafengebäude zurück. Wenig später tötet sie sich hier mit zwei Kopfschüssen. Kurz vor ihrem Selbstmord schickt sie das Zigarettenetui, das Dahlem ihr geschenkt hat, an Anton Miller.
Während des Krieges wird Miller aufgrund einer Heydrich-Parodie als Frontschauspieler nach Russland geschickt. 1942 begegnet er Dahlem, der inzwischen Aufklärungsflüge über Afrika macht, in Berlin wieder. Nach dem Krieg gibt Dahlem in Berlin Japanischunterricht. Später wandert er nach Chile aus. Hier verliert sich seine Spur. Miller wird noch in den letzten Kriegstagen gehängt, weil er einen Witz über Hitler erzählt.
Ein weiterer Baustein des Romans sind japanische Haiku. Fünf von ihnen sind im japanischen Original, weitere in deutscher Übersetzung in das Textgefüge eingestreut.
Ein Haiku ist ein dreizeiliges japanisches Kurzgedicht. Im traditionellen Haiku spielen Natur und Jahreszeiten eine wichtige Rolle. Die Inhalte sind konkret; Gefühle werden nicht benannt. Die Texte sind meist offen und sollen erst durch den Leser vervollständigt werden. So spiegelt das Wesen des Haiku die Struktur des Romans »Halbschatten« wider.