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Kapitel 4

Zusammenfassung

Für gewöhnlich kommen aus jedem Jahrgang des Seminars im Laufe der vier Klosterjahre ein oder mehrere Schüler ums Leben oder werden der Schule verwiesen. Der Erzähler kündigt an, dass dies auch für Hans’ Jahrgang der Fall sein wird und dass durch einen »sonderbaren Zufall« (S. 89) all diese Schüler der Stube Hellas angehören werden, in der auch Hans untergebracht ist.

Zu den verschwundenen Schülern gehört ein kleiner, bescheidener Junge namens Hindu, der im Januar eines Tages beim Schlittschuhlaufen verunglückt und in einem Weiher ertrinkt. Sein Verschwinden wird noch am Nachmittag desselben Tages bemerkt und sein Körper in der Dämmerung vor den Augen der versammelten Schüler aus dem Wasser gezogen. Bei diesem Ereignis finden sich Hans und Hermann zufällig nebeneinander in der Menge. Hans versucht nach Hermanns Hand zu greifen. Dieser aber entzieht sie ihm. Hans überkommt eine schwere Reue darüber, wie er Hermann im letzten Jahr behandelt hat und er beginnt zu weinen.

Die folgenden Tage herrscht eine seltsame Stimmung im Seminar. Gedanken an den toten Hindu erfüllen die Köpfe der Schüler und Lehrer, jegliche Streitereien und Feindschaften werden für kurze Zeit eingestellt. Bald findet Hindus Begräbnis statt, wozu auch sein Vater anreist. Als der kleine Schneidermeister traurig und frierend im Schnee steht, erregt er das Mitleid der Schüler, die sich alle vorstellen, ihre eigenen Eltern müssten so bei ihrem Begräbnis stehen.

Es dauert nicht lange, und im Kloster herrscht wieder die gleiche Stimmung wie zuvor, über Hindu wird nicht mehr viel nachgedacht. Hans aber zeigt sich verändert: Er ist ernster geworden, denn ihn plagt das plötzlich erwachte Bewußtsein seiner Schuld gegen Hermann. Dieser liegt zurzeit auf der Krankenstation und wird von seinen Schulkameraden gänzlich ignoriert. Dadurch steigt sein Hass auf das Seminar nur noch mehr an, und so werden aus seinen anfänglich lediglich schwermütigen »Mönchsliedern« gehässige Verse, gerichtet gegen das Kloster, die Lehrer und Mitschüler. Hans sucht Hermann auf und entschuldigt sich bei ihm dafür, dass er seinen Ehrgeiz über ihre Freundschaft gestellt hat. Er sei zu Sinnen gekommen und wolle nun lieber Letzter werden, als noch länger ohne Hermann zu sein (S. 96). Hermann akzeptiert die Entschuldigung und ihre Freundschaft blüht wieder auf.

Je mehr sich Hans auf ihre wiedergewonnene Freundschaft einlässt, desto weniger wichtig wird ihm die Schule – sehr zum Schrecken der Lehrer, die Hermann für Hans’ Sinneswandel verantwortlich machen. Sie fürchten Hermann ohnehin, da er ein unberechenbares und unkontrollierbares Genie ist, das sich nicht an ihre Ideale anpasst. Der Ephorus ruft Hans zu sich und will wissen, was der Grund für seine verschlechterten schulischen Leistungen sei. Er ermahnt ihn, nur nicht nachzulassen, sonst »kommt man unters Rad« (S. 100). Er verlangt von Hans, sich künftig von Hermann fernzuhalten.

Von da an strengt Hans sich in der Schule wieder mehr an, um nicht allzu sehr zurückzufallen. Anders als früher genießt er die schulischen Arbeiten und das »nüchterne Pflichtdasein« (S. 102) jedoch nicht. Das »erhöhte wärmere Leben«, das ihm Hermann bietet, schätzt Hans nun viel mehr. Seine Wahrnehmung hat sich geändert: Wenn er nun die Texte Homers, des Neuen Testaments und Schulbücher liest, kommen sie ihm lebendig vor und erzeugen Emotionen in ihm. Das war früher nicht der Fall – Hans fühlt sich verwandelt, als habe er eine göttliche Erfahrung gemacht. Seine schulischen Leistungen werden daher auch nicht wirklich besser, und er verliert seinen Status als Lieblingsschüler des Ephorus.

Die beiden Freunde sondern sich immer mehr von ihren Kameraden ab und geraten gelegentlich in Prügeleien. Später im Jahr tut sich Hermann mit dem rebellischen Schüler Dunstan zusammen, sie geben gemeinsam eine Satirezeitschrift heraus. Sie erregen großes Aufsehen. Derweil wird Hans von wahnhaften Träumereien geplagt, die sogar so schlimm sind, dass er manchmal im Unterricht nicht merkt, wenn er aufgerufen wird. In diesen Träumereien erscheinen ihm fremde Gestalten vor dem inneren Auge und entführen ihn in eine Art Parallelwelt.

Nach einem solchen Vorfall ruft ihn der aufgebrachte Ephorus zu sich und Hans wird von einem Arzt untersucht. Der Arzt beschwichtigt den Ephorus, es handele sich bei Hans’ Erscheinungen lediglich um einen vorübergehenden Zustand der Schwäche. Er brauche einfach mehr frische Luft und ein wenig Medizin. Hans muss nun regelmäßig auf Spaziergänge gehen, was er vorschriftsgemäß auch tut, aber die Träumereien und die Müdigkeit bleiben. Auch in der Schule wird er nicht besser, sein Gehirn will nichts mehr aufnehmen und nur noch träumen – und Hans ist machtlos, er kann nichts dagegen tun.

Ein paar Tage später fehlt Hermann plötzlich und niemand weiß, wo er ist. Auch Hans weiß es nicht und leidet sehr am Verschwinden seines Freundes. Erst drei Tage später wird Hermann aufgespürt: Er hatte einen Fluchtversuch aus dem Kloster unternommen. Als Hermann ins Kloster zurückgebracht wird, trägt er den Kopf hoch und macht keinerlei Anzeichen, dass er seine »kleine Geniereise« (S. 115) bereut. Als er sich weigert, Abbitte zu leisten, wird er endgültig des Seminars verwiesen und der Ephorus hält eine schwungvolle Rede über Hermanns »Widersetzlichkeit und Entartung« (S. 115). In der Stube Hellas hört man nie wieder etwas von Hermann, aber der Erzähler deutet an, dass das Leben ihn später in die Zucht genommen habe und aus ihm ein »stattlicher und aufrechter Mann« geworden sei (S. 116). Da jeder annimmt, Hans habe von Hermanns Flucht gewusst, gehört auch er nun zu den Aussätzigen.

Analyse

Gleich zu Anfang des Kapitels hebt der Erzähler hervor, dass das Verschwinden von Knaben im Laufe der vier Seminarjahre nichts Außergewöhnliches sei, beziehungsweise sogar zum Alltag gehöre. Diese Aussage erzielt zwei Effekte.

Zum einen steht das Kloster nun in einem eher zweifelhaften Licht da: Denn indem er die Zahl der durchschnittlich verschwindenden Schüler nennt, suggeriert der Erzähler (ohne es explizit sagen zu müssen), dass das Seminar eine schädliche Einrichtung ist. Der Aufenthalt schadet den Schülern und die Folge sind Unfälle, Suizid und, in harmloseren Fällen, Schulverweise. Das Seminar in Maulbronn wird von nun an wahrscheinlich von vielen Lesern mit Krankheit und Tod assoziiert werden.

Zum anderen werden durch die Vorankündigung des Erzählers, dass alle verschwundenen Schüler aus Hans’ Jahrgang aus der Stube Hellas stammen werden, mehrere Fragen aufgeworfen: Wer wird in diesem Jahr verschwinden? Wird es Hans sein? Und wenn nicht, wird er vielleicht trotzdem etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben?

Bezeichnend ist ebenfalls, wie wenig sich das Verschwinden von Kameraden auf den Alltag ihrer Mitschüler und Lehrer auswirkt. Nach Hindus Tod herrscht zwar für ein paar Tage eine bedrückte Stimmung, die Schüler bringen ihr Beileid zum Ausdruck und werden ein wenig nachdenklicher. Wenig später aber ist alles wieder beim Alten. Es herrschen wieder Streit und Hass, die Lehrer fallen wie gewohnt über die Schüler her. Denn auf sie hat der Tod eines Schülers keinerlei Auswirkungen:

    Einen toten Schüler blicken die Lehrer stets mit ganz andern Augen an, als einen lebenden, sie werden dann für einen Augenblick vom Wert und von der Unwiederbringlichkeit jedes Lebens und jeder Jugend überzeugt, an denen sie sich sonst so häufig sorglos versündigen. (S. 92)

Hans durchläuft in diesem Kapitel eine starke Wandlung. Diese beginnt damit, dass er sich bei Hermann für sein Verhalten der letzten Monate entschuldigen will, weil er erkannt hat, dass ihm ihre gemeinsame Freundschaft wichtiger ist als seine eigenen schulischen Leistungen. Nun will er lieber Letzter des Jahrgangs sein, als seinen Freund zu verlieren. Wider Erwarten ist Hans tatsächlich auch auf bestem Wege dahin:

    Je inniger und glücklicher Hans an seiner Freundschaft hing, desto fremder wurde ihm die Schule. Das neue Glücksgefühl ging brausend wie ein junger Wein durch sein Blut und durch seine Gedanken, daneben verlor Livius so gut wie Homer seine Wichtigkeit und seinen Glanz. (S. 96)

Hans nimmt mehr und mehr Hermanns Ideale von Freiheit an. Das zeigt sich auch in seiner neuen Wahrnehmung der Schullektüre. Früher hat Hans seine Texte nüchtern und trocken gelesen, nun verfällt er beim Lesen von Homer in Tagträumereien.

    Mit dunkel tastendem Gefühle näherte er sich dem Verständnis der homerischen Welt, und in der Geschichte hörten allmählich die Helden auf, Namen und Zahlen zu sein, und blickten aus nahen, glühenden Augen und hatten lebendige, rote Lippen und jeder sein Gesicht und seine Hände — einer rote, dicke, rohe Hände, einer stille, kühle, steinerne, und ein anderer schmale, heiße, feingeäderte. (S. 101)

Literatur erweckt Emotionen und Leidenschaften in Hans, was dem Einfluss seines Freundes Hermann zuzuschreiben ist. Auch die Lehrer erkennen diese Entwicklung und versuchen, Hans von seinem neuen Freund zu trennen. Sie fürchten Hermann, da er sich nicht in ihre Strukturen fügt und seine eigenen Ideale verfolgt:

    Vor nichts graut Lehrern so sehr wie vor den seltsamen Erscheinungen, die am Wesen früh entwickelter Knaben in dem ohnehin gefährlichen Alter der beginnenden Jünglingsgärung hervortreten. An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses Geniewesen unheimlich — zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben von alters eine tiefe Kluft befestigt und was von solchen Leuten sich auf Schulen zeigt, ist den Professoren von vornherein ein Greuel. (S. 97)

Ironisch fügt der Erzähler hinzu: »Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner.« (S. 97)

Hans aber ist erfüllt von der Freundschaft zu Hermann und seiner neugewonnenen Wahrnehmung. Auf seinen Spaziergängen atmet er jetzt eine »Luft voll Leichtigkeit und feiner, träumerischer Würze« (S. 110), und spürt zuweilen ein »dunkles, warmes und erregendes« Gefühl (S. 110). Anders als Hermann am Ende des Kapitels schafft Hans es jedoch nicht, den Fängen der Schule zu entkommen. Hermann flieht, Hans bleibt als Aussätziger zurück.

Veröffentlicht am 15. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 15. April 2023.