Delphine de Vigans 2007 veröffentlichter Jugendroman »No et moi« erschien 2009 in Deutschland unter dem Titel »No & ich«. Er handelt von dem vergeblichen Versuch einer hochbegabten Schülerin, eine obdachlose junge Frau auf dem Weg in ein sozial gesichertes Leben zu begleiten. Der Roman spielt hauptsächlich in Paris und ist in der Regierungszeit des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac angesiedelt (1995–2007). Die erzählte Zeit umfasst rund sechs Monate vom Herbst bis ins Frühjahr des darauffolgenden Jahres. Erzählt wird aus der Perspektive der Schülerin.
Die 13-jährige Lou Bertignac lebt mit ihren Eltern in Paris. Ihre jüngere Schwester Thaïs ist im Säuglingsalter verstorben. Seitdem leidet ihre Mutter Anouk unter schweren Depressionen und verlässt die Wohnung nicht mehr. Lous Vater Bertrand versucht, den Familienalltag aufrechtzuerhalten. Für die hochbegabte Lou, die sich an ihrer Schule als Außenseiterin fühlt, ist die familiäre Situation belastend. Häufig streift sie nach dem Unterricht durch Paris, um nicht nach Hause gehen zu müssen. Durch Zufall lernt sie dabei die 18-jährige Obdachlose Nolwenn »No« Pivet kennen.
Dies bringt sie auf die Idee, ein Referat über Obdachlosigkeit zu halten. Ihr Klassenlehrer Monsieur Marin unterstützt sie. Im Rahmen ihrer Vorbereitungen spricht sie mit No. No erzählt aus ihrem von Gewalt geprägtem Leben: Sie übernachtet in Notunterkünften oder bei Zufallsbekanntschaften. Dabei muss sie sich vor Vergewaltigungsversuchen und Raub schützen. Tagsüber ist sie ständig in Bewegung, um nicht aufzufallen. Von sicheren Orten wie Kaufhäusern oder öffentlichen Gebäuden wird sie aufgrund ihres verwahrlosten Äußeren vertrieben.
Obwohl Lou Klassenbeste ist, fürchtet sie das bevorstehende Referat. Gegen ihre Erwartung wird es jedoch ein großer Erfolg. Die Klasse applaudiert ihr. Lou ist erleichtert, aber es beschäftigt sie weit über den Unterricht hinaus, dass es obdachlose Menschen in einem Staat gibt, der sich auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruft. Sie will No helfen und sucht sie an den früheren Treffpunkten auf. Anfangs weist No sie zurück, doch Lou bleibt hartnäckig.
Beistand erhält sie von ihrem Mitschüler Lucas Muller, in den sie heimlich verliebt ist. Lucas ist sitzengeblieben und älter als die anderen. Der lässige Provokateur und Mädchenschwarm verhält sich Lou gegenüber sensibel und freundlich. Er lebt allein in der Wohnung seiner Eltern. Sein Vater ist nach Brasilien ausgewandert und seine Mutter, die ihm regelmäßig Schecks ausstellt, wohnt bei ihrem neuen Freund.
Als Lou ihre Eltern bittet, No übergangsweise bei sich unterzubringen, willigen diese überraschend ein. Anfangs läuft alles gut. Lous Eltern verhalten sich respektvoll. No gewinnt Vertrauen und fügt sich in den Familienalltag ein. Sie findet Arbeit als Zimmermädchen in einem Hotel und will mithilfe des Sozialamtes eine Wohnung suchen. Anouk unterhält sich gern mit ihr und entdeckt neues Interesse am Leben. Sie macht Pläne mit Bertrand und beginnt, wieder aus dem Haus zu gehen.
Nach und nach erfahren Anouk und Lou mehr über Nos Vergangenheit:
Ihre Mutter Suzanne ist 15, als vier Männer in einer Scheune über sie herfallen. Durch diese Vergewaltigung wird No gezeugt. Suzanne lehnt ihre Tochter ab und berührt sie nie. No verbringt die ersten sechs Lebensjahre bei ihren liebevollen Großeltern. Nach dem Tod ihrer Großmutter bringt man sie zu ihrer Mutter und deren Freund. Suzanne ignoriert No weitgehend. Als sie von ihrem Freund verlassen wird, fängt sie an zu trinken. Das Sozialamt bringt No mit zwölf Jahren in eine Pflegefamilie, wo man sie gut behandelt. Doch No reißt aus und wird schließlich in ein Erziehungsheim gebracht. Hier lernt sie ihre Freundin Geneviève kennen und verliebt sich in den Kleinkriminellen Loïc. Geneviève findet Arbeit und kann im Leben Fuß fassen; Loïc setzt sich nach Irland ab. No endet auf der Straße und wird alkohol- und medikamentensüchtig.
No findet die aktuelle Adresse ihrer Mutter heraus und will sie gemeinsam mit Lou besuchen. Ihr Kontaktversuch gerät zur Katastrophe. Suzanne öffnet nicht, obwohl sie zu Hause ist. No wirft sich verzweifelt gegen die Haustür, die geschlossen bleibt.
Von nun an kommt No immer später nach Hause. Sie arbeitet jetzt nachts und behauptet, dass sie in der Bar und am Empfang mehr Geld verdiene. Offenbar wird sie im Hotel aber sehr schlecht behandelt. Sie schweigt darüber und zieht sich zunehmend zurück. Es ist offensichtlich, dass sie alkohol- und tablettenabhängig ist. Bertrand will sie davon überzeugen, in eine Suchtklinik zu gehen. Kurz nach einem ernsten Gespräch mit ihm verschwindet No spurlos.
Lou fühlt sich schuldig, bis sie von Lucas erfährt, dass No bei ihm untergekommen ist. Sie schließt einen Pakt mit ihm: Gemeinsam wollen sie sich um No kümmern. Niemand darf davon wissen. Die Abende verbringen die drei häufig gemeinsam bei Lucas, reden und sehen Filme. Doch No geht es von Tag zu Tag schlechter. Sie hortet Bargeld, um damit die Fahrt zu Loïc nach Irland zu finanzieren. Als Lou Würgemale an Nos Hals entdeckt, begreift sie, dass sie sich prostituiert.
Eines Abends sieht Lucas Geldscheine aus Nos Hosentasche ragen und fragt, woher diese stammen. Es kommt zum Streit. No stürzt, als Lucas sie schüttelt. Lou versucht vergeblich, sie zu beruhigen. Wenig später wird sie von ihren Eltern, die nicht wissen, dass Lucas allein lebt, vor der Wohnung abgeholt. Anouk und Bertrand merken, dass etwas nicht stimmt. Zu Hause stellen sie Lou zur Rede und erfahren schließlich die ganze Wahrheit: über Lucas, sein Leben ohne seine Eltern, über Nos Versteck und den Plan, sich um sie zu kümmern. Lous Vertrauensbruch macht sie fassungslos. Lou erklärt, sie hätte Angst gehabt, Bertrand würde No in eine Anstalt stecken.
Am nächsten Tag telefoniert Bertrand mit Lucas‘ Mutter. No verlässt vor deren Eintreffen panisch die Wohnung. Lou ist von zu Hause weggelaufen. Sie will gemeinsam mit No nach Cherbourg fahren und von dort aus mit der Fähre nach Irland übersetzen. Schon vor der Abreise gibt No viel Geld aus und kauft unnötige Geschenke für Lou. Noch immer sind sie in Paris und übernachten in einer schäbigen Unterkunft. Am anderen Morgen will Lou endlich zum Bahnhof. Dort angekommen, geht No zum Fahrkartenschalter. Als sie nach längerer Zeit nicht zurückkehrt, realisiert Lou, dass sie sich allein auf den Weg gemacht hat. Zu Fuß geht sie nach Hause zurück, wo die aufgelöste Anouk sie in die Arme nimmt – zum ersten Mal seit Langem.
Lucas und Lou hören nichts mehr von No. Ein paar Wochen später erfahren sie von Nos Freundin Geneviève, dass Loïc zwar tatsächlich in Irland lebt, sich aber seit seinem Fortgang nie mehr bei No gemeldet hatte.
Lous Klassenlehrer Monsieur Marin geht in den Ruhestand. Am letzten Schultag schenkt er Lou ein Buch, das ihm als junger Mann viel bedeutet hat. Lou wagt nicht, es auszupacken. Zum Abschied erhält sie von ihm den Rat, nicht aufzugeben. Der Roman endet damit, dass Lucas und Lou sich küssen. Wie es mit den beiden weitergeht, bleibt ebenso offen wie das Schicksal von No
Delphine de Vigan hat mit »No und ich« einen spannenden Jugendroman geschrieben, der soziale Probleme ungeschönt anspricht und scharfe gesellschaftliche Kritik übt. Dabei vermeidet das Werk eindeutige Schuldzuweisungen. Vielmehr schildert es die zahlreichen Ursachen für Nos Scheitern in ihrer Komplexität – politisches und institutionelles Versagen sind auf unheilvolle Art mit einem schweren individuellen Schicksal verwoben. Dass das Geschehen aus der Perspektive einer 13-jährigen Schülerin erzählt wird, schafft eine besondere Nähe zu den Figuren und vermeidet jeden erhobenen Zeigefinger.
2010 verfilmte die französische Schauspielerin und Regisseurin Zabou Breitman den Roman und übernahm selbst die Rolle von Lous Mutter Anouk. Lou wurde von Nina Rodriguez gespielt, No von Julie-Marie Parmentier.