In seinem 1998 veröffentlichten Roman »Agnes« erzählt Peter Stamm die Liebesgeschichte zwischen einem etwa vierzigjährigen Schweizer Sachbuchautor und Agnes, einer fünfundzwanzigjährigen amerikanischen Doktorandin der Physik. Der Protagonist und namenlose Ich-Erzähler entwirft eine Geschichte in der Geschichte und verlangt von Agnes, dass sie der Fiktion in der Realität folgt. Die Handlung spielt in der Gegenwart in Chicago und einem nahe gelegenen Nationalpark.
Der Ich-Erzähler ist allein in seiner Wohnung in der Innenstadt Chicagos und schaut zum wiederholten Male ein Video an, das seine Freundin Agnes im letzten Jahr bei einer Wanderung durch einen Nationalpark aufgenommen hat. »Agnes ist tot«, beginnt der Ich-Erzähler und schildert rückblickend die Ereignisse der letzten neun Monate:
Im April recherchiert er in der öffentlichen Bibliothek von Chicago über amerikanische Luxuseisenbahnwagen. Dort begegnet er Agnes, die an ihrer Dissertation über Symmetrien von Kristallgittern schreibt. Er redet von da an jeden Tag mit der ernsthaften jungen Frau, die ansonsten kaum soziale Kontakte hat.
Nach einigen Wochen verabreden sie sich zum Essen im Restaurant. Auf dem Gehsteig vor dem Restaurant liegt eine tote Frau, und beim Essen bringt Agnes das Gespräch auf Sterben und Tod. Agnes geht mit dem Ich-Erzähler in dessen Wohnung und hat dort ihre erste sexuelle Erfahrung.
Am nächsten Morgen verrät ihr der Ich-Erzähler, dass er früher Kurzgeschichten verfasst und sich auch an einem Roman versucht habe. Die Ergebnisse seien allerdings »künstlich« geblieben. Agnes gefällt der Romananfang und sie ermuntert den Ich-Erzähler zum Weiterschreiben. Als sie später ihrerseits eine Kurzgeschichte zu Papier bringt, weist der Ich-Erzähler sie schroff zurecht, und sie vernichtet ihren literarischen Versuch.
Agnes bittet ihren Geliebten, eine Geschichte über sie zu schreiben. Sie wünscht sich ein »Porträt«, das sie zeigt, wie sie ist. Der Ich-Erzähler beginnt mit der Niederschrift ihrer ersten Begegnung in der Bibliothek. Agnes liest und kommentiert die einzelnen Kapitel. Es wird deutlich, dass nicht nur ihrer beider Wahrnehmung und Gewichtung, sondern auch die Erinnerung unterschiedlich ist.
Als der Ich-Erzähler Ende August bei der Gegenwart ankommt, verändert sich gleichzeitig seine Beziehung zu Agnes. Obwohl sie ihm fremd und unbekannt vorkommt, verlangt es ihn nach ihrer Nähe, und er empfindet eine fast körperliche Abhängigkeit von ihr. Während er sie immer aufmerksamer beobachtet, »überholt« er beim Schreiben die Gegenwart und erreicht die Zukunft. Er betrachtet Agnes nun als sein Geschöpf. Er schreibt über zukünftige Ereignisse, die beide dann – wie einem Drehbuch folgend – in der Gegenwart leben. Agnes trägt zum Beispiel das Kleid, wie es die Geschichte vorgibt, oder zieht Ende September in die Wohnung des Ich-Erzählers ein.
Im Oktober macht das Paar eine Zeltwanderung durch einen Nationalpark. Am ersten Abend an einem See wird Agnes vorübergehend ohnmächtig. Am nächsten Tag führen sie Gespräche über Einsamkeit, spurloses Verschwinden und Erfrierungstod.
Zurück in Chicago schreibt der Ich-Erzähler weiter an der Geschichte mit Agnes. Die Realität vermischt sich mit seiner Fantasie und mit Tagträumen. Er ist deprimiert, weil Agnes in seiner Fantasie seinen Heiratsantrag ablehnt. Er meint, ihre Gefühle unbewusst erraten zu können.
Auf einer Halloween-Party, die der Ich-Erzähler allein besucht, während Agnes am Festumzug der Universität teilnimmt, lernt er Louise kennen, die beruflich Zugang zu Dokumenten über Luxuseisenbahnwagen hat und dem Ich-Erzähler beim Abschied ihre Karte gibt.
Agnes teilt ihrem Geliebten mit, dass sie schwanger ist. Dieser will kein Kind und erwidert, dass Agnes in der Geschichte nicht schwanger wird. Er rät ihr zur Abtreibung und geht weg. Unterdessen zieht Agnes aus seiner Wohnung aus. Auf die späteren Kontaktversuche des Ich-Erzählers reagiert sie nicht. Dieser schreibt derweil die Geschichte um und akzeptiert die Schwangerschaft.
Während er sich auf eine unverbindliche Affäre mit Louise einlässt, stellt er sich zugleich vor, Vater zu sein. In einem Brief an Agnes setzt er die Geschichte fort, indem er das gemeinsame Kind Margaret nennt. Er erfährt, dass Agnes schwer krank ist, zögert einen Besuch bei ihr jedoch tagelang hinaus. Er fürchtet um seine Freiheit, die ihm mehr bedeutet als Glück.
Nach einer Fehlgeburt ist Agnes geschwächt und der Versuch einer Aussprache bleibt halbherzig. Agnes zieht wieder beim Ich-Erzähler ein. Gemeinsam schreiben sie die Geschichte von Margarets Kindheit und gehen in der Realität Spielzeug und Kinderkleidung einkaufen. Anschließend ist Agnes verzweifelt. Sie löscht den Text und wirft Spielzeug und Kleidung weg. Sie verlangt eine Geschichte, die der Wirklichkeit entspricht.
Agnes erholt sich und wird nach außen sehr aktiv, vom Ich-Erzähler distanziert sie sich jedoch äußerlich wie innerlich. Als beide nach einem gemeinsamen Hausputz zu zweit Heiligabend feiern, stellen sie fest, wie wenig sie voneinander wissen. Während eines Winterspaziergangs, den der Ich-Erzähler allein unternimmt, läuft das Ende von Agnes‘ Geschichte vor seinem inneren Auge ab. Zurück zu Hause schreibt er auf: Agnes ist in der Silvesternacht außerhalb der Stadt allein in eisiger Kälte unterwegs. Sie spürt die Kälte nicht.
Am nächsten Morgen erfindet der Ich-Erzähler ein zweites Ende, in dem Agnes und er miteinander glücklich werden. Als er es Agnes vorliest, sind beide nicht überzeugt davon. Tatsächlich arbeitet der Autor in den nächsten Tagen wie besessen an dem anderen Schluss, in dem Agnes allein in der Kälte ist, und der für ihn der einzig wahre und mögliche ist.
Da Agnes stark erkältet ist, geht der Ich-Erzähler allein zu einer Silvesterparty von Louises Eltern und verbringt anschließend die Nacht mit Louise. Diese will die Beziehung fortsetzen, aber der Ich-Erzähler verweist auf Agnes. Als er am frühen Morgen die Wohnung betritt, sieht er gleich, dass Agnes am Computer das heimlich verfasste andere Ende der Geschichte gelesen hat. Darin erfriert sie im Wald.
Agnes ist verschwunden und ihr Wintermantel hängt nicht an der Garderobe. Der Ich-Erzähler sucht nicht nach ihr. Er schaut sich ein Video an, das Agnes im Nationalpark von ihm aufgenommen hat. Der Film endet abrupt.
Mit der Figur der Agnes hat Peter Stamm eine faszinierende und rätselhafte Figur geschaffen. Sozial isoliert lässt sie sich auf das Spiel des Ich-Erzählers ein. Erkennt sie, wann diesem seine Fiktion anfängt wichtiger zu werden als die reale Geliebte? Obwohl Agnes sich immer wieder mit Tod und Sterben beschäftigt, bleibt am Ende offen, ob sie der Geschichte folgend tatsächlich stirbt oder nur aus der Geschichte und dem Leben des Ich-Erzählers aussteigt.