Der Roman »Anna Karenina« von Leo N. Tolstoi wurde 1877/78 veröffentlicht. Er spielt zur Zeit seiner Entstehung, einer Epoche voller gesellschaftlicher Umbrüche. Tolstoi greift die großen Fragen seiner Zeit auf: Die Rolle des Adels wird ebenso thematisiert wie die Bedeutung von Kirche und Religion. Moralische Fragen zum Ehebruch und zur Familie als Institution der Zukunft werden gestellt. Orte der Handlung sind Moskau und Petersburg sowie umliegende Landgüter.
Das Werk besteht aus acht Teilen. Drei Handlungsstränge sind darin miteinander verwoben: Die Titelfigur Anna Karenina flüchtet aus einer freudlosen Ehe mit dem Staatsbeamten Alexej Karenin; ihr Liebesverhältnis zu dem Grafen Wronski endet tragisch. Annas Bruder, Fürst Stepan Oblonski, unterhält wechselnde außereheliche Beziehungen und zwingt seine Frau Dolly in die Rolle der unglücklich Duldenden. Dollys Schwester Kitty Schtscherbazkaja und der Gutsbesitzer Ljevin dagegen finden zu einer erfüllten Beziehung.
Erster Teil
Kapitel 1-5; 17-21
Darja Alexandrowna Oblonskaja, genannt Dolly, erfährt von der Untreue ihres Mannes, des Staatsbeamten Fürst Stepan Arkadjitsch Oblonski, genannt Stiwa. Dolly will sich scheiden lassen. Stepans Schwester Anna Arkadjewna Karenina eilt aus Petersburg zur Hilfe. Auf dem Moskauer Bahnhof findet die erste Begegnung zwischen Anna und dem Offizier Graf Alexej Kirillowitsch Wronski statt. Beide sind tief beeindruckt voneinander. Unterdessen wird ein Bahnwärter von einem Zug überfahren. Anna erkennt darin ein böses Omen. Im Haus Oblonski gelingt es der offenen und herzlichen Anna, die Eheleute zu versöhnen.
Kapitel 6-16; 24-27
Der Gutsbesitzer Konstantin Dmitrijewitsch Ljevin liebt Dollys Schwester Katerina Schtscherbazkaja, genannt Kitty. Er will sie heiraten. Obwohl Kitty Ljevin sehr mag, weist sie ihn ab. Der verschmähte Ljevin reist zurück auf sein Gut. Er findet zunächst Trost in den Alltagsgeschäften.
Kapitel 22-23; 28-34
Kitty ihrerseits ist verliebt in den Grafen Wronski. Dieser ist freundlich zu Kitty, und ihre Mutter erwartet seinen Heiratsantrag. Bei einem Ball in der Moskauer Gesellschaft wird Kitty Zeugin der heftigen Leidenschaft, die zwischen Wronski und Anna Karenina brennt. Beide können ihre Gefühle nicht verbergen. Kitty fühlt sich gedemütigt. Am nächsten Tag fährt Anna überstürzt zurück nach Petersburg. Ihr Ehemann Alexej Alexandrowitsch Karenin empfängt sie am Bahnhof. Wronski ist Anna nachgereist.
Das Werk wurde in russischer Sprache verfasst, mithin liegt das Original in kyrillischer Schrift vor. Dies bedeutet, dass neben der eigentlichen Übersetzung die Eigennamen in die lateinische Schrift übertragen werden müssen. Für diese Transkription gibt es Regeln – inzwischen sogar eine DIN-Vorschrift. Dennoch haben sich in der Literatur häufig mehrere Schreibweisen etabliert. Selbst der Name des Autors wird mitunter als Tolstoj statt richtig: Tolstoi angegeben.
Einige Beispiele für unterschiedliche Übertragungen:
- Arkadjewitsch – Arkadjitsch
- Lewin – Levin – Ljevin
- Oblonskij – Oblonski
- Wronskij – Wronski
Zweiter Teil
Kapitel 1-3; 12-17; 30-35
Kittys Hoffnungen sind enttäuscht worden. Sie ist tief verletzt und erkrankt schwer. Ihre Ärzte verordnen eine Kur im Ausland. Dort durchlebt die junge Frau eine Reifezeit. Etliche Monate später kehrt sie geheilt nach Moskau zurück. Unterdessen versucht Ljevin durch körperliche Arbeit auf seinem Gut die Zurückweisung zu überwinden.
Kapitel 4-11; 18-29
Wronski verschafft sich in Petersburg Zugang zu den gesellschaftlichen Kreisen, in denen Anna Karenina verkehrt. Wronski ist jung, liebenswürdig und Anna ergeben. Im Zusammensein mit ihm findet Anna all das, was ihr in ihrer Ehe fehlt. Alexej Karenin ist zwanzig Jahre älter als sie. Strenge und Vornehmheit gehen von ihm aus. Er ist ein angesehener hoher Beamter und zufrieden mit seinem straff organisierten Tagesablauf. Sein kühler Spott steht in krassem Gegensatz zu Annas Warmherzigkeit und Lebendigkeit.
Anna lässt sich auf eine Beziehung mit Wronski ein. Sie ahnt, dass dies fatale Folgen haben wird. Die Affäre bleibt weder der Petersburger Gesellschaft noch ihrem Mann verborgen. Alexej Karenin verlangt von Anna lediglich, sich selbst und ihn nicht lächerlich zu machen. Im Laufe des folgenden Jahres wird Annas Ehebruch von der Gesellschaft zunehmend missbilligt. Unterdessen spürt Alexej Karenin, dass Anna ihm entglitten ist. Auch der gemeinsame achtjährige Sohn Sergej, genannt Serjoscha, ist von der Affäre seiner Mutter verunsichert.
Anna verändert sich. Geringschätzung und Abscheu gegenüber ihrem Mann nehmen für sie unerträgliche Ausmaße an. Sie gesteht Alexej Karenin, dass sie Wronskis Geliebte ist. Karenin ist schockiert und will seine Ehre retten. Dafür soll zunächst der äußere Schein der Ehe aufrechterhalten werden.
Dritter Teil
Kapitel 1–6; 11–12; 24–32
Ljevin hat sich von der Gesellschaft zurückgezogen. Sein älterer Stiefbruder Sergej Iwanowitsch ist zu Besuch auf dem Landgut. In langen Diskussionen zwingt dieser den Jüngeren, sich mit der der herrschenden Gesellschaftsordnung und der Situation der Landarbeiter auseinanderzusetzen. Sie diskutieren Themen der Zeit wie Kommunismus und Materialismus. An der Seite seiner Bauern arbeitet Ljevin schwer. Von der Erinnerung an Kitty lenkt ihn weder das eine noch das andere ab.
Kapitel 7–10
Der allseits beliebte, leichtsinnige Stepan Oblonski führt weiterhin das Leben eines Junggesellen; gegenüber seiner Frau hat er ein dauerhaft schlechtes Gewissen. Dolly Oblonskaja verbringt den Sommer mit den Kindern auf ihrem ererbten Gut; Haus und Hof sind von Verfall bedroht. Dolly lädt ihren Nachbarn Ljevin zu sich ein und kündigt ihm Kittys Besuch auf dem Land an. Im Gespräch wird deutlich, dass Ljevin die Kränkung durch Kitty nicht verwunden hat. Später muss er sich eingestehen, dass er Kitty noch immer liebt.
Kapitel 13–23
Nach reiflicher Überlegung schlägt Alexej Karenin Anna die Fortsetzung der Ehe vor. Er verlangt dafür, dass Anna die Beziehung zu Wronski beendet. Alternativ würde er die Scheidung einreichen und ihr den Umgang mit Serjoscha vorenthalten . Anna ist schwanger von Wronski. Sie bittet ihn zu sich. Vergeblich wartet sie auf ein eindeutiges Bekenntnis zu ihr. Schließlich kehrt sie zu ihrem Mann zurück.
»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Dieser erste Satz des Romans wird auch als »Anna-Karenina-Prinzip« bezeichnet. Er hat auch mehr als 130 Jahre nach seinem Erscheinen nicht an Gültigkeit verloren.
Vierter Teil
Kapitel 1–10; 12
Anna bleibt offiziell bei ihrem Mann; sie trifft sich dennoch heimlich mit ihrem Geliebten. Ihre Eifersucht auf Wronskis Leben außerhalb der seltenen Treffen kann Anna nicht verbergen. Da Anna sich nicht an seine Bedingung hält, will Alexej Karenin die Scheidung einreichen. Er reist nach Moskau. Dort versuchen Annas Bruder Stiwa und dessen Frau Dolly, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Kapitel 11; 13-16
Während eines Abendessens im Haus Oblonski begegnen sich auch Kitty und Ljevin. Sie verstehen sich ohne Worte. Noch am selben Abend gestehen sie sich ihre Liebe. Kittys Vater Fürst Schtscherbazki gibt der Verbindung seinen Segen.
Kapitel 17-23
Bei der Geburt ihrer Tochter Anna erkrankt Anna Karenina schwer. Als sie sich dem Tode nahe fühlt, will sie Alexej Karenin unbedingt sehen. Es kommt zu einer Versöhnung zwischen den Eheleuten. Der enttäuschte Wronski richtet seine Pistole versehentlich gegen sich selbst. Er überlebt schwer verletzt. Der Unfall wirkt wie ein gescheiterter Selbstmordversuch.
Nach Annas unerwarteter Genesung finden sie und Wronski wieder zueinander. Mit ihrem Mann dagegen kommt es zum endgültigen Bruch. Nach der Fürsprache von Stepan Oblonski bietet Alexej Karenin Anna die Scheidung an. Sie lehnt ab. Wronski nimmt seinen Abschied vom Militär und begibt sich mit Anna auf eine lange Auslandsreise.
Fünfter Teil
Kapitel 1-6; 14-20
Ljevin und Kitty heiraten in Moskau. Anschließend lassen sie sich auf Ljevins Gut nieder. In den folgenden Monaten wachsen sie innerlich wie äußerlich zu einem Paar zusammen. Schließlich wird Kitty schwanger.
Kapitel 7-13; 21-33
Wronski und Anna bereisen unterdessen Europa und lassen sich für längere Zeit in Italien nieder. Nach Monaten des Unterwegsseins und der Untätigkeit kehren sie schließlich nach Petersburg zurück. Während ihrer Abwesenheit hat die Gräfin Lydia Iwanowna die Haushaltsführung im Hause Karenin übernommen. Inzwischen liebt sie Alexej Alexandrowitsch in demselben Maße wie sie Anna hasst.
Annas Bitte, ihren Sohn Serjoscha sehen zu dürfen, wird entschieden abgelehnt. Heimlich schleicht Anna sich in Karenins Haus; es kommt es zu einer bewegenden Begegnung zwischen Mutter und Sohn. Anna spürt, dass die ungeliebte Tochter ihr den erstgeborenen Sohn nicht ersetzen kann. Von der Petersburger Gesellschaft geächtet und gedemütigt zieht Anna sich mit Wronski auf dessen Gut zurück.
Sechster Teil
Kapitel 1-15
Auf Ljevins Gut führt das junge Paar ein offenes Haus. Hier ist auch die in finanzielle Schwierigkeiten geratene Dolly Oblonskaja mit ihren Kindern gern zu Gast. Ihr treuloser Mann gibt sich unterdessen weiterhin seinen Vergnügungen hin und erscheint nur gelegentlich zu kurzen Besuchen.
Kapitel 16-25; 32
Dolly stattet Anna einen Besuch ab. Anna lebt in materiellen Wohlstand, leidet aber unter Einsamkeit. Sie liest viel und versucht, Wronski auf dem Gut nützlich zu sein. Selbstzweifel plagen sie; eifersüchtig klammert sie sich an den Geliebten. Der wiederum fühlt sich eingeengt und strebt nach Freiheit. Die professionelle Verwaltung seines Guts erfordert geschäftliche Kontakte; auch sonst zeigt er sich wieder in der Gesellschaft. Er nimmt an einer Tagung des Adels teil und entdeckt sein Interesse an der Politik. Kommende Veränderungen in der russischen Gesellschaft zeichnen sich ab.
Wronski drängt Anna zur Scheidung. Mit der anschließenden Heirat könnte er die gemeinsame Tochter legitimieren und sich selbst öffentlich rehabilitieren. Anna hat das bisher abgelehnt, um Serjoscha nicht endgültig zu verlieren. Schließlich hält sie die bedrückende Situation nicht mehr aus und wendet sich mit einem Brief an Alexej Karenin.
Erkenntnisse, auf denen heutzutage Ratgeber oder Bücher zur Lebenshilfe basieren, formulierte Tolstoi schon im vorletzten Jahrhundert in seinem Roman. Ein interessantes Beispiel: »Wenn in einer Familie irgendwelche Entschlüsse gefasst werden sollen, muss zwischen den Ehegatten entweder ein völliges Zerwürfnis oder liebevolle Einmütigkeit herrschen. Wenn aber das gegenseitige Verhältnis unbestimmt ist, kann nichts unternommen werden. Viele Familien bleiben Jahre hindurch am gleichen, beiden verhassten Ort, einfach aus dem Grunde, weil es weder das eine noch das andere, weder Uneinigkeit noch Einigkeit zwischen ihnen gibt.« (Teil 7, Kapitel 23)
Siebter Teil
Kitty und Ljevin sind in Moskau, wo Kitty von einem Sohn entbunden wird. Zur selben Zeit warten Anna und Wronski dort auf die Karenins Entscheidung. Annas tragische Situation ist offensichtlich. Während sie einsam zu Hause sitzt, ist Wronski in der Moskauer Gesellschaft unterwegs. Annas Eifersucht führt immer häufiger zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den beiden.
Die Finanzlage von Annas Bruder Stepan Arkadjitsch ist desolat. Seine Frau Dolly beginnt sich zu emanzipieren. Sie weigert sich, ihm ihre eigenen Vermögenswerte vollständig zu überlassen. In Petersburg sucht Stepan Arkadjitsch nach einem neuen einträglichen Posten. Zudem setzt er sich bei Karenin für die Scheidung von Anna ein und begegnet Serjoscha. Der Junge verbietet sich die Erinnerung an seine Mutter.
Zwischenzeitlich steigert sich Anna immer mehr in ihre Eifersucht und Wahnvorstellungen hinein. Sie ist sicher, Wronskis Liebe an andere Frauen verloren zu haben. Als er zu Besuch bei seiner Mutter ist, fordert Anna ihn zur sofortigen Rückkehr auf. Wronski erhält die Nachricht erst mit Verspätung und reagiert nicht. Anna sieht keinen Ausweg für ihr Leben und verliert die Kontrolle über sich. Im Moskauer Bahnhof stürzt sich sich vor einen einlaufenden Zug.
Achter Teil
Kapitel 1-5
Ein Dasein ohne Anna erscheint Wronski sinnlos. Er zieht als Freiwilliger in den Krieg auf dem Balkan. Dort will er sein für ihn unnützes Leben dem Sieg über die Türken opfern.
Kapitel 6-19
Währenddessen quält Ljevin die Frage nach dem Sinn seiner Existenz. Die Grenzerfahrungen beim Tod seines Bruders Nikolaj und bei der Geburt seines ersten Sohnes stürzen ihn in eine schwere Krise. Er hält sich für unfähig an Gott zu glauben und beschäftigt sich intensiv mit philosophischen Schriften. Die erhoffte Erlösung bringen sie nicht. Auch auf die großen gesellschaftlichen Veränderungen kann er kaum Einfluss nehmen, wie er zugeben muss. Nach monatelangem Ringen erkennt Ljevin die Hingabe an das Gute als göttlichen Willen und als Lebenssinn. Er findet zur langersehnten Ruhe.
»Anna Karenina« ist ein Klassiker der Weltliteratur. In seinem detailreichen Werk dringt Tolstoi tief in die Psyche seiner Charaktere ein, ohne zu verurteilen oder sie ihrer Würde zu berauben. Sowohl die Hauptfiguren als auch die Nebenfiguren erscheinen als Suchende nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Durch den Verlauf der Handlung macht Tolstoi lediglich Vorschläge; diese sind aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Es bleibt den Lesern unbenommen, eigene Antworten zu finden.
Anmerkung: Soweit möglich, wurden den verschiedenen Handlungssträngen die entsprechenden Kapitel zugeordnet. Aufgrund der starken Verflechtungen ist im siebten Teil eine sinnvolle Abgrenzung jedoch nicht möglich.