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Das Tagebuch der Anne Frank

Ende März 1944 – August 1944: Die letzten Monate im Versteck

Zusammenfassung

Am 28. März kündigt der niederländische Kultusminister an, dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus der Kriegszeit veröffentlicht werden soll. Sofort bestürmen die Untergetauchten Anne wegen ihres Tagebuchs, aus dem sie gelegentlich humoristische Passagen vorliest. Anne nimmt sich vor, nach dem Krieg einen Roman mit dem Titel Das Hinterhaus herauszugeben, der auf ihrem Tagebuch basiert. Später möchte sie Journalistin und Schriftstellerin werden und stellt die Überlegung an, der Zeitung anonym ein selbstverfasstes Märchen anzubieten. Zudem arbeitet sie an einem Romanentwurf (Cadys Leben), der auf der Lebensgeschichte des Vaters basiert. Die Lage in den Niederlanden und auch im Hinterhaus verschlechtert sich aufgrund der Lebensmittelknappheit. Angesichts der sich häufenden Diebstähle wird auch im Firmengebäude im April erneut eingebrochen und die Polizei kommt ins Haus, was die Untergetauchten in Todesangst versetzt.

Anne reflektiert über die Lage der Juden – »Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht?« – und ruft zu Mut und Durchhaltevermögen auf (11.04.44, S. 248 f.). In der Beziehung mit Peter hat Anne erstmals ein so starkes Gefühl wie in ihrem Traum von Peter Schiff. Peter und Anne küssen sich auf den Mund und Anne fragt sich in ihrem Tagebuch, ob es sich für sie als Mädchen ziemt, genauso verlangend zu sein wie Peter: »Ich habe Angst vor mir selbst, habe Angst, dass ich mich in meinem Verlangen zu schnell wegschenke« (28.04.44, S. 263). Anne begehrt Peter, würde ihn, wäre sie älter, jedoch nicht heiraten. Sie findet Peter noch zu unreif und wenig charakterfest. Anne erzählt ihrem Vater von der Intensität ihrer Beziehung zu Peter. Dieser stört sich wie die Mutter daran, dass Anne so oft zu Peter nach oben geht, und »will ‚die Knutscherei‘ nicht haben« (05.05.44, S. 267). Anne schreibt ihm daraufhin einen Brief, in dem sie erklärt, nun eine eigenständige Person zu sein und den Eltern vorwirft, sich nicht genügend um sie gekümmert zu haben, als es ihr im Versteck nicht gut ging. Ihr Vater reagiert verletzt und sagt, er und die Mutter hätten diese Vorwürfe nicht verdient. Anne bereut daraufhin den Vorwurf an den Vater und gelobt in ihrem Tagebuch Besserung.

Sie schreibt weiter Geschichten, berichtet humoristisch von Alltagsereignissen im Hinterhaus, jedoch auch von der zunehmenden Verschärfung der Lage: Das Geld der Untergetauchten geht langsam zur Neige, der Antisemitismus greift auch in den Niederlanden um sich, Schreckensnachrichten häufen sich und der Gemüsehändler wird verhaftet, weil er Juden versteckt gehalten hat. »Ich frage mich immer wieder, ob es nicht besser für uns alle gewesen wäre, wenn wir nicht untergetaucht wären, wenn wir nun tot wären und dieses Elend nicht mitmachen müssten und es vor allem den anderen ersparten« (S. 288), schreibt Anne am 26. Mai und setzt hinzu: »Lass das Ende kommen, auch wenn es hart ist, dann wissen wir wenigstens, ob wir letztlich siegen werden oder untergehen.« (ebd.)

Am 6. Juni beginnt die Invasion, im Zuge derer englische Truppen das von deutschen Truppen besetzte Frankreich angreifen. Diese Nachricht und die raschen Fortschritte der Invasion rufen im Hinterhaus große Hoffnungen auf einen Sieg über die Deutschen und ein baldiges Ende des Krieges hervor. Wenig später feiert Anne ihren 15. Geburtstag und reflektiert in ihrem Tagebuch über sich selbst, beispielsweise ihr Vorlautsein, über das Kriegsgeschehen und die Position der Frau in der Gesellschaft. Anne sieht sich in der Rolle einer modernen Frau und möchte später auf keinen Fall nur Hausfrau sein.

Ihre Begeisterung für Peter ist merklich abgekühlt, sie zeigt sich enttäuscht von dessen häufiger Verschlossenheit, seiner Bequemlichkeit und seinem mangelnden Vertrauen in sich selbst. Sie wünscht sich, mehr zu Peter aufblicken zu können; stattdessen stützt sich Peter immer stärker auf sie und Anne überlegt, wie sie ihn wieder auf eigene Beine stellen kann. Sie erkennt, dass sie sich »ein Traumbild« von ihm geschaffen hat und führt das auf ihre große Sehnsucht nach einem wahren Freund zurück (15.07.44, S. 308). Als unverhofft eine große Lieferung Erdbeeren im Hinterhaus eintrifft, helfen alle beim Einkochen mit, wobei Anne sich besorgt über die Unvorsichtigkeit zeigt, die dabei herrscht: »Versteckte und Versorgungskolonne, alles durcheinander, und das mitten am Tag! Die Vorhänge und Fenster offen, lautes Reden, schlagende Türen. Vor lauter Aufregung bekam ich Angst. Verstecken wir uns wirklich noch? fuhr es mir durch den Kopf. So ein Gefühl muss das sein, wenn man sich der Welt wieder zeigen darf.« (08.07.44, S. 303)

Das Attentat von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944 sorgt für weiteren Optimismus im Hinterhaus und Anne freut sich bei der Aussicht, im Herbst wieder auf einer Schulbank sitzen zu können. In ihren letzten Einträgen denkt Anne über ihren Charakter, das Weltgeschehen und Personen in ihrem Umfeld nach: Dabei stellt sie bei sich eine ausgeprägte Gabe zur Selbsterkenntnis sowie ein hohes Maß an Lebensmut fest. Sie fühlt sich frei, jung und widerstandsfähig und hält trotz der Geschehnisse auf der Welt an ihrem Glauben an das Gute im Menschen fest.

Ihre Suche nach einem Vertrauten war bisher nicht erfolgreich, ihr Vater öffnet sich ihr gegenüber zu wenig, um ihr Vertrauter zu werden, und Peter scheidet ebenfalls aus. Sie beschließt, ihre Anschauungen nie jemand anderem mitzuteilen als ihrem Tagebuch und – in seltenen Fällen – Margot. In sich selbst erkennt Anne zwei Seiten, die miteinander im Widerspruch liegen: eine lärmende, freche, ausgelassene, Seite, die alles leicht nimmt, andere mit Späßen unterhält und aneckt sowie eine Seite, »die viel schöner, reiner und tiefer ist« (01.08.44, S. 311). Diese nachdenklichere, ernste, verletzlichere Seite kann Anne jedoch vor anderen nicht zeigen: »Es geht nicht, und ich weiß auch, warum es nicht geht. Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin, entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere. Ich habe Angst, dass sie mich verspotten, mich lächerlich und sentimental finden, mich nicht ernst nehmen.« (01.08.44, S. 312)

Nach dem Eintrag vom 1. August 1944 endet Annes Tagebuch.

Analyse

In ihren Einträgen aus dem Frühjahr und Sommer 1944 zeigen sich einmal mehr Annes Reife und ihr analytischer Blick auf sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen Personen. Sie möchte eine unabhängige, selbstbestimmte Person sein, die Verantwortung für ihre eigenen Handlungen übernimmt. In ihrem Brief an den Vater sagt sie sich von der elterlichen Autorität los und reklamiert für sich, ein eigenständiger Mensch zu sein und selbst zu entscheiden, was sie für richtig hält.

Das Tagebuch bildet für Anne ein Reflexionsmedium, in dem sie ihre Gedanken und Gefühle ordnen und verarbeiten kann. Zudem bildet es den Ort, an dem Anne all das aussprechen kann, was sie niemandem anvertrauen möchte, sind doch sowohl Peter als auch ihr Vater als engste Vertrauensperson ausgeschieden. Vermehrt denkt Anne über ihre Zukunft nach, wobei sie auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft reflektiert. Bereits mit fünfzehn steht ihr Berufswunsch, Schriftstellerin und Journalistin zu werden, fest. Sie möchte nicht auf das häusliche Feld einer Ehe- und Hausfrau beschränkt sein, sondern die Welt bereisen, einen Beitrag für die Gesellschaft leisten und in Erinnerung bleiben. Während Anne in ihrer Phase der Verliebtheit wenig über äußere Geschehnisse berichtet und sich auf ihre Beziehung zu Peter konzentriert, nimmt sie nun wieder vermehrt Bezug auf das Weltgeschehen. Sie fühlt sich stark und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Auffällig ist, dass sie bereits in der Vergangenheit dem stellenweise aufflammenden Optimismus der Erwachsenen kritische Beobachtungen gegenüberstellte und stets einen realistischen und klarsichtigen Umgang mit der Lage der Untergetauchten bewies. So sorgt sie sich auch beim Einkochen der Erdbeeren über die Unvorsichtigkeit der anderen und schwankt in ihren Tagebucheinträgen zwischen vorsichtigem Optimismus und der Erwartung kommenden Unheils. Prägnant ist ihre Darstellung von der Zweiteilung ihrer Seele in eine laute und eine stille, nachdenkliche Anne. Zweitere stellt sie als bessere Anne dar, wagt jedoch aus Angst vor der Reaktion anderer nicht, diese Seite ihrer Persönlichkeit zu zeigen. Im Verlauf des Tagebuchs spricht Anne wiederholt über ihre »Maske« bzw. ihren »Panzer«, womit sie auf ihre äußere laute und fröhliche Fassade verweist, die den weicheren, verletzlichen Kern ihrer Persönlichkeit schützt. Diesen Kern kann sie nur ihrem Tagebuch zeigen sowie der vertrauten Person, nach der sie sich fortwährend sehnt, jedoch unter den Menschen in ihrem Umfeld nicht findet.

Veröffentlicht am 10. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 10. Oktober 2022.