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Das Tagebuch der Anne Frank

Anfang 1944 – Ende März 1944: Annes Veränderung

Zusammenfassung

Bereits im Dez 1943 berichtet Anne davon, dass ihre Stimmungen zunehmend schwanken, wobei sie zur Veranschaulichung die goethesche Wendung »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« verwendet (S. 153). Sie hat ihre Periode bekommen, freut sich darüber, interessiert sich für Körper und Sexualität und betrachtet neugierig ihre innere und äußere Wandlung. Sie beginnt, auf Peter van Daan zuzugehen und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Wenn Anne seine Verlegenheit bemerkt, wird sie »ganz weich von innen«, hält jedoch fest, nicht in Peter verliebt zu sein (06.01.44, S. 161).

In dieser Phase träumt Anne viel und eindrücklich: Neben Hanneli erscheint ihr im Traum ihre Großmutter als Schutzengel und sie träumt von Peter Schiff, mit dem sie eine »heftige Kinderverliebtheit« (07.02.44, S. 163) verband. Peter verließ sie damals, worunter Anne litt, im Traum wendet er sich Anne jedoch wieder zu, blickt ihr in die Augen und sie fühlt seine Wange an ihrer. Durch den Traum, den Anne als sehr intensiv wahrnimmt, realisiert sie, dass sie Peter noch immer liebt. In späteren Einträgen kommt Anne immer wieder auf diesen Traum zu sprechen und schreibt ihm eine Schlüsselrolle zu: Sie berichtet, seit dem Traum verändert zu sein: »Es kommt mir vor, als wäre ich seit meinem Traum älter geworden, eine eigenständigere Person.« (22.01.44, S. 170).

Sie betrachtet Dinge jetzt aus einem anderen Blickwinkel und kritisiert dabei auch ihr früheres Verhalten: »Ich möchte alles neu erforschen« (S. 171), hält Anne fest und ist bestrebt, sich von Elternautoritäten zu lösen, sich ihre eigene Meinung zu bilden und sich zunehmend als eigenständigen Menschen wahrzunehmen. »Warum bin ich so verändert?« (S. 170), fragt sie sich in einem Eintrag vom 22. Januar 1944. Als sie frühere Tagebucheinträge über ihre Mutter liest, erschrickt sie über ihre eigene Wut. Sie zeigt nun auch Verständnis für das Verhalten ihrer Mutter, kritisiert eigene Handlungen, kann die Mutter jedoch noch immer nicht lieben.

Gegenüber den van Daans möchte Anne eine neue, unvoreingenommene Haltung einnehmen und ihnen nicht per se alle Schuld an den Streitigkeiten geben. Neben der Annäherung an Peter verändert sich auch ihre Beziehung zu Margot: »Margot ist so lieb geworden [...]. Sie ist längst nicht mehr so schnippisch und wird nun eine wirkliche Freundin. Sie sieht nicht mehr den kleinen Knirps in mir, mit dem man nicht zu rechnen braucht.« (12.01.44, S. 166)

Mit Peter van Daan verbringt Anne viel Zeit und ist beeindruckt davon, dass sie mit ihm auch offen über Themen wie Sexualität und Menstruation sprechen kann. Im Hinterhaus wird über eine mögliche Invasion der Alliierten debattiert, über »Hungern, Sterben, Bomben, Feuerspritzen, Schlafsäcke, Judenausweise, Giftgase« (03.02.44, S. 179). Anne versucht, zu den Gesprächsthemen auf Abstand zu gehen und findet in der zunehmend intensiveren Beziehung zu Peter wieder etwas, worauf sie sich freuen kann. Sie geht oft nach oben, in der Hoffnung, ihn zu treffen, denkt immerzu an ihn und leidet darunter, wenn er sie nicht ausreichend beachtet. »Aber wie und wann werden wir uns endlich finden?«, schreibt sie am 27. Februar, »Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Verlangen noch mit meinem Verstand beherrschen kann.« (S. 194) Wie sie selbst feststellt, sind Peter van Daan und Peter Schiff zu einem Sehnsuchtsobjekt verschmolzen (28.02.44, S. 195). Vermehrt zieht sich Anne auf den Dachboden zurück und findet allein oder mit Peter Trost und Ruhe in der Betrachtung der Natur: »Als ich heute Morgen vor dem Fenster saß und Gott und die Natur genau und gut betrachtete, war ich glücklich, nichts anderes als glücklich.« (23.02.44, S. 193)

Im März sorgt ein weiterer Einbruch für Angst unter den Bewohner/-innen des Hinterhauses. Die Erwachsenen empfindet Anne zunehmend als anstrengend und stellt ihnen die Bedürfnisse der Jüngeren gegenüber, womit sie sich, Peter, Margot und Bep meint:
»Und wir? Wir dürfen kein Urteil haben! [...] Und niemand hier kann uns verstehen, vor allem diese idiotischen Besserwisser nicht. Denn wir sind empfindsamer und viel weiter mit unseren Gedanken, als einer von ihnen es wohl auch nur im Entferntesten vermuten würde.« (02.03.44, S. 197)

Anne vergleicht ihr früheres Leben mit ihrem heutigen Leben im Versteck. In der Schulzeit war sie stets der Mittelpunkt, von Freundinnen und Bewunderern umringt. »Ich betrachte diese Anne Frank jetzt als ein nettes, witziges, aber oberflächliches Mädchen, das nichts mehr mit mir zu tun hat« (07.03.44, S. 203), notiert Anne. Sie sehnt sich zwar nach der früheren Freiheit und Unbeschwertheit, fühlt jedoch, dass sie sich weiterentwickelt hat, ihre Kindheit abgeschlossen und sie vernünftiger geworden ist.

Im gleichen Eintrag analysiert Anne auch ihre Entwicklung seit ihrer Zeit im Versteck: Während sie im Jahr 1942, von der neuen Situation überrumpelt, zunächst frech und stark bleibt, leidet sie im Jahr 1943 zunehmend unter Einsamkeit und Traurigkeit. In der zweiten Hälfte des Jahres 1943 verortet sie ihre allmähliche Wandlung zur jungen Frau, ihr zunehmendes Reflektieren und ihre beginnende Ablösung von den Eltern:
»Ich verstand, dass ich auf Mutter verzichten kann, ganz und vollständig. Das tat weh. Aber eines traf mich noch mehr, nämlich die Einsicht, dass Vater nie mein Vertrauter werden würde. Ich vertraute niemandem mehr, nur noch mir selbst.« (07.03.44, S. 204).

Anne bemängelt, dass sie von den Eltern nie umfassend sexuell aufgeklärt wurde, sie beliest sich, fragt Peter und verfasst schließlich in ihrem Tagebuch eine Erläuterung der weiblichen Geschlechtsorgane. Mit Peter verbringt sie den bisher schönsten Abend im Hinterhaus, an dem sie sich im Dunkeln über vertrauliche Dinge unterhalten. Margot und Anne tauschen Briefe aus, in denen es um Peter geht: Margot wünscht sich angesichts der engen Beziehung zwischen Anne und Peter ebenfalls einen Vertrauten, schreibt jedoch, dass Peter für sie nicht geeignet gewesen wäre, da er nicht reif genug sei.

Analyse

In dieser Phase vollzieht sich ein wichtiger Entwicklungsschritt: Anne entdeckt ihre Sexualität, löst sich zunehmend von den Eltern, verabschiedet sich von ihrer Kindheit und wird zur jungen Frau. Auffällig ist, dass Anne in dieser Phase weniger über äußere Vorgänge berichtet, sondern ihren Blick nach innen wendet, über sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen Personen reflektiert, ihr Verhalten überdenkt und an sich arbeitet. Sie löst sich davon, Meinungen ihrer Eltern unreflektiert zu übernehmen, und möchte sich nun eigenständig ein Bild machen und Dinge neu betrachten. In dieser Zeit schreibt Anne intensiver in ihr Tagebuch, die Einträge folgen in kürzeren Abständen.

Anne denkt über die eigene Veränderung nach, fühlt sich nun reifer, vernünftiger und klarer in ihren Ansichten. Deutlich ist ihr Bestreben, eine unabhängige Person zu werden und sich sowohl von der Mutter als auch vom Vater zu emanzipieren. Neben dieser klaren, verstandesgeleiteten Reflexion bilden die ersten Monate des Jahres 1944 durch Annes Verliebtheit und sexuelles Erwachen auch einen Zeitraum großer innerer Unruhe, Aufregung und aufkeimender Emotionen. Der Traum von Peter Schiff bildet ein Schlüsselerlebnis, auf das sich Anne wiederholt bezieht. Im Traum offenbaren sich Annes Sehnsucht nach körperlicher Nähe und Liebe und sie projiziert dieses Bedürfnis auf Peter, der mit ihr im Versteck zusammenlebt. Peter Schiff, den sie geliebt hat, und Peter van Daan, dem sie jetzt nahe sein kann, verschmelzen zu einem Sehnsuchtsobjekt, auf das Anne ihre ganze Aufmerksamkeit richtet. In Peter, mit dem sie lange Gespräche führt, scheint Anne endlich den Vertrauten gefunden zu haben, nach dem sie sich schon lange gesehnt hat.

Veröffentlicht am 10. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 10. Oktober 2022.