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Das Tagebuch der Anne Frank

Interpretation

Bei Anne Franks Tagebuch handelt es sich um ein vielschichtiges Werk, das unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und interpretiert werden kann. Es ist:

  • ein historisches Dokument, das exemplarisch und eindrücklich das Schicksal verfolgter Juden und Jüdinnen während der NS-Zeit aufzeigt. In Anne Franks Tagebuch werden das ganze Ausmaß und die Konsequenz der nationalsozialistischen Bedrohung sowie die Ausnahmesituation, in der sich die Handelnden befinden, offenbart: Um der drohenden Deportation und dem Tod zu entgehen, leben acht Menschen zwei Jahre lang auf engem Raum in einer kleinen, abgedunkelten Wohnung. Weil draußen Todesgefahr besteht, müssen sie sich leise verhalten und können das Versteck niemals verlassen. Das Verstummen der Stimme Annes und das Wissen um die Deportation und Ermordung aller Hinterhausbewohner/-innen mit Ausnahme Otto Franks konfrontiert Leser/-innen seit den 1950er Jahren mit dem Holocaust.
  • »das einmalige Dokument der Entwicklung eines Mädchens zur Frau« (Pressler, S. 339). Da Annes Tagebucheinträge nicht durch spätere Einsichten oder Erlebnisse beeinflusst sind, erhalten die Lesenden einen offenen und direkten Blick auf Annes Pubertätszeit und ihr Erwachsenwerden (vgl. ebd.). Dadurch bietet sich ein hohes Identifikationspotenzial für eine jüngere Leserschaft, da Anne während ihrer Pubertät mit denselben Problemen und Entwicklungsschritten konfrontiert ist, die auch heutige Jugendliche kennen: Konflikte mit Erwachsenen, das Entdecken der eigenen Sexualität, das Gefühl des Unverstandenseins.
  • das Dokument der Entwicklung einer Schriftstellerin: Anne zeigt in ihrer Zeit im Versteck ein zunehmendes Interesse am Schreiben, verfasst Kurzgeschichten und einen Romanentwurf und überarbeitet schließlich ihr Tagebuch im Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung. Das Tagebuch bildet ein literarisches Werk, das sich durch originelle Einfälle, sprachliche Vielfalt und genaue Beobachtungen auszeichnet und das schriftstellerische Talent der jungen Autorin zeigt.

Seit den 1950er Jahren ist eine Veränderung in der Rezeption des Tagebuchs zu erkennen: Stand anfangs, durch die Bühnen- und Filmversion vorangetrieben, vor allem Annes Rolle als Opfer des Krieges im Vordergrund, wird ihr im späteren Verlauf mehr Handlungsmacht zugesprochen. »Als Autorin ist sie nun nicht mehr nur ein wehrloses Opfer des Nationalsozialismus, vielmehr wird sie zur Handelnden, die sich aktiv und kritisch mit sich selber und ihrem Leben als Jüdin, als Kind und später als Frau in einer äußerst fragilen, gefährlichen und krisenhaften Situation auseinandersetzt.« (Schürch/Koellreuter).

Veröffentlicht am 10. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 10. Oktober 2022.