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Bahnwärter Thiel

Aufbau des Werkes

»Bahnwärter Thiel« trägt das formale Aussehen einer klassischen Novelle. Für die Novelle ist bezeichnend, dass sie eine sogenannte »unerhörte Begebenheit« schildert. Die hier geschilderte unerhörte Begebenheit besteht natürlich in dem Mord, den Thiel begeht. Ein weiteres Charakteristikum der Novelle ist die relative Kürze. Tatsächlich lässt sich »Bahnwärter Thiel« gut in einem Durchgang lesen – was auch die Spannung und den Reiz der Geschichte ausmacht. 

Vor allem aber kann die Novelle auch als eine Art Prosaversion einer Tragödie verstanden werden. Der klassische Aufbau einer Tragödie nach Gustav Freytags »Technik des Dramas« (1863) sieht wie folgt aus:

In der »Exposition« wird das Personal vorgestellt und deren Lebensumstände erläuternd eingeführt. Die anschließende »steigende Handlung« meint, dass sich eine Geschichte entwickelt. In »Bahnwärter Thiel« besteht die steigende Handlung darin, dass es Thiel immer schlechter geht und er die Misshandlung von Tobias mitbekommt. Der »Höhe- und Wendepunkt« besteht in der Nachtschicht, die Thiel im Anschluss an die miterlebte Misshandlung im Sturm verbringt, wobei er nicht mehr zwischen Traum und Realität zu unterscheiden vermag. Nun setzt die sogenannte »fallende Handlung« ein. Diese ist dadurch charakterisiert, dass das Geschehen mehr oder weniger unweigerlich auf die Katastrophe zusteuert. Im »Bahnwärter Thiel« zeigt sich die fallende Handlung in dem Intermezzo zwischen der Nacht im Sturm, während welcher Thiel erste Anzeichen seines Wahnsinns zeigt, und der Eröffnung Lenes, sie werde am folgenden Tag mit zu Thiels Arbeit kommen. Dann aber setzt das sogenannte »retardierende Moment« ein. Der Tag verläuft zunächst viel besser als erwartet. Die Katastrophe scheint abgewendet – »verzögernd« ist die Wortbedeutung von retardierend. Doch die Novelle steuert selbstverständlich auf ein tragisches Ende zu. Wie in der Tragödie kommt es zur »Katastrophe«.

Im »Bahnwärter Thiel« nun nimmt die Katastrophe ziemlich viel Raum ein. Sie erstreckt sich von Seite 57 bis 67, nimmt also ein Viertel des Gesamttextes ein. Sie reicht vom Unfall über den Wahnsinn Thiels bis hin zur Ermordung von Lene und dem Säugling.

Dabei beweist Hauptmann, wie sehr er Theatermensch ist: Innerhalb der Katastrophe finden sich so nochmals kleinere retardierende Momente und Subkatastrophen, so etwa die Szene, in der Thiel seinen Sohn erwürgen will, es aber aufgrund eines luziden Moments dann doch unterlässt.

Unterstützt wird dieser Aufbau durch die Kapiteleinteilung, die sich nicht wesentlich von der Einteilung in Akte der Tragödie unterscheidet. Gerade durch diesen Aufbau und den Verzicht auf ausufernde Gedankenreden wird »Bahnwärter Thiel« zu einem spannenden und sehr modernen Stück Literatur.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.