Skip to main content

Bahnwärter Thiel

Historischer Hintergrund und Epoche

»Bahnwärter Thiel« wird der Epoche des Naturalismus zugeordnet, allerdings ist diese Zuordnung nicht ganz unwidersprochen geblieben. So weist etwa Post darauf hin, dass die Novelle »in der Hinwendung zum Naturalismus diesen schon überschritten hat« (Post 129). Eine Lektüre des »Bahnwärter Thiel« scheint diesem Diktum Recht zu geben. Tatsächlich finden sich in der Novelle »naturalistische, symbolistische und mystizistische Elemente« (129). Typisch naturalistisch ist etwa das Milieu, in dem »Bahnwärter Thiel« angesiedelt ist. Hier handelt es sich um preußisches Kleinbürgertum, das am Rande der Großstadt ein mehr oder weniger vergessenes Leben fristet. Typisch naturalistisch ist aber auch, dass »hier das Schicksal eines Menschen in der Anhängigkeit der ihn determinierenden Lebensumstände geschildert« wird (Post 128). Gleichzeitig lässt sich die Novelle aber nicht vollständig auf den Diskurs des Naturalismus zurückführen.

Das geschilderte Kleinbürgertum wird durchaus in seiner Not porträtiert, wobei es sich beim »Bahnwärter Thiel« um keine wirklich sozialkritische Novelle handelt. Doch auch diese Behauptung ist wiederum mit Vorsicht zu betrachten. Der Stumpfsinn des Thielschen Dienstes, die Armut – das spielt durchaus eine Rolle, jedoch kann kaum behauptet werden, es sei eine sonderlich konstitutive Rolle. Wichtiger erscheint die grundsätzliche Technikkritik, die sich im »Bahnwärter Thiel« zeigt. Schon der erste geschilderte Zug wird als das »schwarze, schnaubende Ungetüm« bezeichnet (51). Auf der anderen Seite wird von Lene gesagt, sie arbeite »mit der Geschwindigkeit und Ausdauer einer Maschine« (56).

Ganz genau lässt sich nicht sagen, wann »Bahnwärter Thiel« spielt. Allerdings spricht wenig dagegen, davon auszugehen, »Bahnwärter Thiel« spiele in dem Jahr, in dem die Novelle verfasst wurde, also 1887. Frühestens allerdings spielt die Novelle 1856, denn Thiel tut bereits seit 10 Jahren Dienst, und 1846 wurde die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn eröffnet, an der er diesen Dienst versieht. Dass die Geschichte aber früher als 1887 spielt, ist nicht unbedingt wahrscheinlich. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Entstehungszeit und Geschehenszeit identisch sind.

Seit dem siegreichen Krieg gegen Frankreich und der Reichseinigung, die auf militärischen Druck von Preußen durchgesetzt wurde, war das Deutsche Kaiserreich ein wohlhabender, militärisch und industriell hochbedeutender Staat in der Mitte Europas. Insbesondere die von Frankreich erpressten Reparationszahlungen fungierten als Anschubfinanzierung für das 1871 neugegründete Reich. Allerdings muss gesagt werden, dass das Geld sehr ungleich verteilt wurde. Gerade die Arbeiterschaft und das Kleinbürgertum profitierten nur wenig vom neuen Reichtum. Die Not der Familie Thiel ist also keine Besonderheit, sondern mehr oder weniger typisch. 

Gleichzeitig war die Zeit – weil die Städte so spürbar wuchsen, die Bauwerke repräsentativer wurden, die Erfolge also unübersehbar waren – von einem starken Fortschrittsglauben geprägt. Dieser Fortschrittsglauben erwies sich aber vor allem angesichts der Not in den städtischen Arbeitervierteln als geradezu naiv. »Bahnwärter Thiel« steht in Opposition zu diesem Fortschrittsoptimismus.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.