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Bahnwärter Thiel

Kapitel 1

Zusammenfassung

Der Bahnwärter Thiel wird als treuer Kirchgänger vorgestellt, dessen Leben der reinen Pflichterfüllung gewidmet zu sein scheint. Jeden Sonntag sitzt er in der Kirche von Neu Zittau, einem kleinen Dorf kurz hinter der Berliner Stadtgrenze. Bereits am Anfang wird deutlich, dass das Leben Thiels ziemlich ereignisarm ist. Seit zehn Jahren hat nichts seinen sonntäglichen Kirchgang verhindern können, bis auf zwei Arbeitsunfälle. Beide Male flogen Gegenstände aus einem vorbeifahrenden Zug und verletzten ihn.

Nach fünf Jahren Dienst ist Thiel plötzlich jeden Sonntag mit einer Frau in der Kirche, die er wenige Zeit später heiratet. Zwei Jahre später bringt die Frau ihr gemeinsames Kind zur Welt. Bei der Geburt stirbt sie.

Nach einem Trauerjahr heiratet Thiel wieder, wobei seine neue Frau sich auffällig von der ersten unterscheidet. Sie ist deutlich gröber, aber auch vitaler. Äußerlich passt sie, meinen die Dorfbewohner, besser zu Thiel, allerdings sagen sie ihr charakterliche Defizite nach. Die neue Frau gilt als streitsüchtig und herrisch. Thiel aber scheint das nichts auszumachen. Er macht den Eindruck eines Mannes, den nichts wirklich erreichen kann.
Einzig die Sorge um seinen Sohn aus erster Ehe, Tobias, lässt ihn manchmal aus der Haut fahren. Wenn seinem Erstgeborenen etwas zu geschehen droht, wird er unnachgiebig. Dann wagt nicht einmal seine zweite Frau Lene, ihm zu widersprechen.

Allerdings setzt langsam eine Entwicklung ein, die ihn immer stärker den Launen seiner Frau ausliefert. Er wird abhängiger, gerade auch sexuell. Während seine erste Ehe als eher geistig beschrieben wird, ist die Ehe mit Lene deutlich körperlicher. Thiel leidet unter dieser Entwicklung, weswegen er sich tiefer in seine Arbeit stürzt. Als Bahnwärter hat er eine Hütte, in der er seinen Dienst versieht. Thiel achtet streng darauf, die beiden Sphären Arbeit und Zuhause voneinander zu trennen.

Seine Hütte dient ihm als Rückzugsort, hier gedenkt er vor allem seiner ersten Frau, der gegenüber er sich für seine neu entfachte Sinnlichkeit schämt. So wird er während der Einsamkeit in seiner »Bude« zum eifrigen Bibelleser. Das liegt allerdings auch an der Abgeschiedenheit der Hütte. Im Umkreis von mindestens drei Kilometern befindet sich kein menschliches Wesen außer Thiel. Es sei denn, ein Zug fährt vorbei. Allerdings passiert das augenscheinlich nicht allzu häufig.

Tobias erscheint als entwicklungsverzögert. Als er ungefähr zwei Jahre alt ist, bringt seine Stiefmutter ein Kind zur Welt. Dieser Zweitgeborene bekommt nun Lenes ganze Liebe, während sich ihr Verhältnis zu Tobias zusehends verschlechtert. Tobias wird in die Pflege seines kleinen Bruders eingespannt. Die Nachbarn sehen das mit Sorge, Thiel aber scheint nichts davon mitzubekommen.

Analyse

Das erste Kapitel fungiert innerhalb der Novelle als Exposition. Thiel wird vorgestellt und in seinem typischen Verhalten porträtiert. Dabei fällt die extreme Regelmäßigkeit auf, mit der er sein Leben lebt. Nur große Unglücksfälle können ihn vom geregelten Gang seines Alltags abhalten. Dabei wird diese extreme Regelmäßigkeit, die geradezu an ein Uhrwerk erinnert, nicht unbedingt als nachahmenswertes Muster dargestellt. Thiels Existenz wirkt von Anfang an entfremdet, auf eine gewisse Art und Weise ist sein Dasein leblos. Es ist reine Pflichterfüllung; wenn er nicht auf der Arbeit ist, folgt er den Pflichten eines guten Protestanten: »[N]ichts [hatte] vermocht, ihn, sobald er frei war, von der Kirche fernzuhalten« (37).

Die Exposition dient aber nicht nur dazu, Thiel in seinem ereignisarmen Leben zu schildern, sondern auch dazu, das ihn umgebende Milieu abzubilden. Es ist ein kleinbürgerliches Milieu am Rande der Großstadt und am Rande der Zugstrecke. Der Ort, an dem die Novelle spielt, kann als ein vergessener Ort verstanden werden. Andernorts – genauer: 25 km westlich in Berlin – werden die Errungenschaften der Gründerzeit genossen. Prachtbauten wie der Reichstag entstehen, während in Schön-Schornstein, wo die Novelle spielt, nur die Züge vorbeifahren, die den Reichtum in Form von Rohstoffen und Menschen in die beinahe 4 Millionen Einwohner fassende Großstadt bringen.

Mit dem kleinbürgerlichen Milieu geht auch eine aktive Nachbarschaft einher. Vor allem im ersten Kapitel wird immer wieder auf »die Leute« referiert: »die Leute meinten« (37), »die Leute versicherten« (37), »[dagegen] hatten die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden« (38) etc. Dabei fällt allerdings auf, dass der wortkarge Thiel nicht wirklich am Nachbarschaftsleben teilnimmt. Wenn er sich mit jemandem abgibt, dann sind es – wie im zweiten Kapitel zu erfahren ist – die Kinder. Die starke Bedeutung, die dem Urteil der »Leute« zukommt, steht so in Kontrast zur tendenziell schwachen persönlichen Beziehung zu ihnen. Auch dies ist ein Zeichen für die leblose, entfremdete Existenz des Bahnwärters.

Im Rahmen der Exposition wird außerdem deutlich, wie inhaltsleer sein Dienst ist:

Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren unschwer zu überblicken. Vor vier Jahren war der kaiserliche Extrazug, der den Kaiser nach Breslau gebracht hatte, vorübergejagt. In einer Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem Sommertage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine verkorkte Weinflasche gefunden (41).

Innerhalb von zehn Jahren finden also fünf Ereignisse statt, von denen sich drei vor allem durch ihre Trivialität auszeichnen.

Die Verletzungen hingegen haben auch symbolischen Charakter und stehen dafür, dass Thiel von seiner Arbeit selbst krank gemacht wird. Beide Male sind es Gegenstände, die aus einem vorbeifahrenden Flug fallen und ihn verletzen. Sein Dienst oszilliert also zwischen Langeweile und Arbeitsunfall – eine Mischung, die an der Katastrophe Thiels durchaus ihren Anteil hat.

Außerdem wird im ersten Kapitel Thiels Liebesleben gezeigt. Zunächst ist da die Ehe mit der stillen und kränklichen Minna – deren Namen der Leser freilich erst im dritten Kapitel erfährt (50). Aufgrund ihrer schlechten Konstitution stirbt diese Frau nach der Geburt des Sohnes Tobias. Dass die von ihr in die Ehe mitgebrachten Erbanlagen schlecht sind, zeigt sich auch darin, dass Tobias entwicklungsverzögert ist (41). Durch Aufzeigen der Erbanlagen und Schilderung des Milieus sind die beiden zentralen Determinanten der naturalistischen Ideologie im ersten Kapitel vertreten (vgl. Post 127).

Im Gegensatz zur ersten Frau Thiels wird Lene, die zweite, dargestellt. Sie ist äußerst vital und energiegeladen. Lene ist eine arbeitsame und fleißige, gleichzeitig aber auch sehr zanksüchtige Frau. Nachdem sie selbst ein Kind zur Welt bringt, wandelt sie sich zum Typus der bösen Stiefmutter: »[Es] verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in offene Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres ebenfalls einen Jungen gebar« (41). Mit der Bemühung dieses Mythos schließt die Novelle an die Tradition des Märchens an.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 6. April 2023.