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Bahnwärter Thiel

Interpretation

Feministische Interpretation

»Bahnwärter Thiel« eignet sich hervorragend für eine feministisch orientierte Interpretation. Dabei erweist sich ein Blick auf das Frauenbild, das sich im »Bahnwärter Thiel« zeigt, als äußerst erhellend. Geradezu typisch für das Frauenbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist die Unterteilung von Frauen in zwei Gruppen, nämlich die der Heiligen und die der Huren. So geschehen etwa in dem zur damaligen Zeit besonders bekannten und erfolgreichen Werk »Geschlecht und Charakter« von Otto Weininger. Genau diesem zutiefst frauenfeindlichen Schema entsprechen die beiden Frauenfiguren. Auf der einen Seite steht die heilige Minna, auf der anderen die verhurte Lene.

Bezeichnend daran ist aber, dass Minna gleichzeitig die tote Frau ist. Lene hingegen ist sehr lebendig. Positiv ausgedrückt, ist Lene lebhaft, robust und voller Lebenskraft. Die übersexualisierte Frau ist also die Lebendige, was im Umkehrschluss heißt, dass nach der Ideologie, die sich im Text ausdrückt, lebendige Frauen Huren sind, während nur tote Frauen in den Stand einer Heiligen erhoben werden können. So fallen beide Urteile eher zweischneidig aus. Auch wenn der Typus Hure eindeutig negativ konnotiert ist, weist Lene doch Eigenschaften auf, die erstrebenswert sind: Lebendigkeit, Tatkraft und einen starken Willen. Der Typus der Heiligen hingegen ist durch völlige Apathie, durch die Unfähigkeit zu handeln gekennzeichnet. Die Heilige ist kein lebendiges Wesen mehr, sondern nur ein Gegenstand der Verehrung. Sie mag als Vorbild dienen, einen Einfluss hat sie nicht mehr.

In dieser Gegenüberstellung zweier Frauenfiguren zeigt sich die tiefe Frauenfeindlichkeit der Epoche, die sich übrigens auch in Hauptmanns eigenem Verhältnis zu Frauen spiegelt (Kuczynski 61 ff.). Allerdings muss an dieser Stelle gesagt werden, dass es sich bei dieser Frauenfeindlichkeit um einen schematischen Vorwurf handelt. Selbstverständlich waren Ende des 19. Jahrhunderts nicht alle Menschen frauenfeindlich, schließlich liegen die Anfänge des modernen Feminismus in genau jener Zeit.

Sozialkritische Interpretation

»Bahnwärter Thiel« lässt sich aber auch sozialkritisch deuten: Im Laufe seines Arbeitslebens ist Thiel zwei Mal erkrankt (37). Interessant daran ist, dass die Erkrankungen von den Zügen, also dem Objekt seiner Arbeit, ausgehen. Es ist die herabfallende Kohle bzw. die hinausgeschleuderte Flasche, die Thiel arbeitsunfähig machen. Scheinbar besteht hier ein Paradoxon: Es ist die Arbeit selbst, die ihn unfähig zur Arbeit macht. Aus einer sozialkritischen Perspektive aber könnte gesagt werden, dass die stumpfsinnige und undankbare Arbeit letzten Endes eine so starke Ausbeutung bedeutet, dass Thiel nach einer gewissen Zeit einfach ausgebrannt ist. Die Arbeit, die der Industriekapitalismus von seinen Unterworfenen verlangt, ist gar nicht zu schaffen, da am Ende des Prozesses kein fertiges Produkt steht, sondern der Prozess wieder von vorne anfängt. Eine marxistische Interpretation könnte dies als Beleg für die tiefgreifende Entfremdung wahrnehmen, unter der die lohnabhängig Beschäftigten leiden. Zwar könnte von Thiels Beruf gesagt werden, er sei mit großer Verantwortung verbunden. Allerdings kann bezweifelt werden, dass Thiels Verantwortungsbewusstsein über das von preußischer Untertanentreue geforderte Maß hinausgeht. Tatsächlich heißt es in der Novelle: Thiel »hat sich nie um den Inhalt dieser Polterkasten gekümmert« (59). Von einer ethisch bedeutsamen, nicht entfremdeten Beziehung seinem Beruf gegenüber erfahren Leser hingegen nichts.

So gesehen hat der Wahnsinn Thiels seinen Grund im Kapitalismus, der in der Novelle vor allem durch den Zug repräsentiert wird. Tatsächlich ist der moderne Industriekapitalismus nicht von der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt und dem Siegeszug der Eisenbahn zu trennen. Erst der massive Ausbau der Eisenbahnnetze ermöglichte etwa, dass das Schlesische Revier die Rohstoffe für die Industriestadt Berlin liefern konnte. Die Bahnstrecke, an der Thiel seinen Dienst versieht, war also hoch bedeutend. Um 1890 war Berlin eine der wichtigsten Industriestädte der Welt, immerhin stammen die Firmen Borsig, AEG und Siemens aus der Stadt, die selbst wenig Rohstoffe hatte.

Zu diesem Interpretationsansatz würde auch passen, dass Tobias vom Zug überrollt wird. Der Fortschritt, der im Zug dargestellt wird, rollt rücksichtslos über die Menschen hinweg. Zusätzlich gestützt wird diese These durch die letzte Szene, in der der Zug wegen des wahnsinnigen Thiels nicht weiterfahren kann. Hier könnte interpretiert werden, dass der Kapitalismus zwar rücksichtslos mit Menschen verfährt, dennoch aber den Menschen als Handlungsträger benötigt. Wenn alle Menschen verrückt würden, würde der Kapitalismus zu existieren aufhören. Indirekt könnte man hier vielleicht sogar ein schwaches utopisches Potenzial ausmachen: Wenn der Kapitalismus von gesunden Menschen abhängt, dann kann er vielleicht geändert, vielleicht zum Guten geführt werden. Allerdings scheinen solche Interpretationen Hauptmanns mittlerweile eher die Ausnahme darzustellen, wenngleich sich gerade die frühen Werke – vor allem das Drama »Die Weber« – durchaus mit der sozialen Frage beschäftigen. Dennoch sei klar gesagt, dass Hauptmann durch und durch apolitisch war. Er begriff sich als Dichter, nicht als Politiker.

Natürlich ist Technikkritik ein konstitutives Moment der Novelle. Allerdings lässt es sich nicht auf einen bloßen Kulturpessimismus zurückführen. Ein »Zurück zur Natur« ist nicht mehr möglich. So werden einerseits die Züge als »Ungetüm[e]« (50) bezeichnet, andererseits wird der Körper Lenes mit einer Maschine gleichgesetzt (56). Gleichzeitig wird das Summen der Telegraphenstangen mit Chorälen verglichen, womit die Technik in den Rang der Heiligkeit erhoben wird oder zumindest in deren Nähe rückt (56). Der Zug fungiert als Monster, als Bestie, also als Lebewesen, während Lene mit einer Maschine verglichen wird. So erweist sich die Technikkritik als durchaus vielschichtig. Natur und Technik, Mensch und Maschine gehen ineinander über.

Dekonstruktivistischer Ansatz

Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Text von der sich in ihm abbildenden Ideologie aus zu interpretieren. So könnte gesagt werden, der Text bediene sich bestimmter Denkmuster des Sozialdarwinismus. Tobias’ Tod lässt sich vor allem dahingehend deuten. Der entwicklungsverzögerte Junge mit den schlechten Erbanlagen ist der modernen Welt und ihren Anforderungen nicht gewachsen. Er wird von der Moderne buchstäblich überrollt. Es kommt zu dem Unglück, weil Lene, die ihrerseits hervorragende Erbanlagen besitzt, die robust ist, arbeiten kann »wie eine Maschine« (56), nicht adäquat auf ihn achtgibt. Genau das ist aber eine zentrale Grundannahme des Sozialdarwinismus: Das Leben kümmert sich nicht um Schwäche. So heißt es etwa beim Philosophen Friedrich Nietzsche, der zwar kein eigentlicher Sozialdarwinist ist, aber bestimmte Ideologeme mit ihm teilt: »ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es noch halten! Aber ich – ich will es noch stoßen!« (Nietzsche). Im Sozialdarwinismus hat das Leben eine moralische Qualität, die sich bewusst von einer Moral des Mitleids oder der Solidarität absetzt. Richtig ist, was überlebt – wenn es dabei zu Kollateralschäden kommt, ist das nicht zu beanstanden. 

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.