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Bahnwärter Thiel

Kapitel 3

Zusammenfassung

Ganz entgegen seiner Art kommt Thiel zu spät zum Schichtwechsel. Thiel und sein Kollege wechseln wenige Worte, der Kollege verschwindet, Thiel ist wieder in der Einsamkeit. Durch die gerade empfangenen Eindrücke ist Thiel gedanklich abwesend und verrichtet die Schritte, die er zur Vorbereitung der Nachtschicht absolvieren muss, ohne innere Teilnahme. Dennoch führt er alle Aufgaben pflichteifrig durch. Selbst die Schranke, die eigentlich von niemandem passiert wird, schließt er vor und öffnet er nach jedem Zug während seiner Schicht.

Derweil verändert sich das Wetter, ein Wind kommt auf. Während die Sonne untergeht, zeigen sich die Vögel des Waldes ein letztes Mal vor dem Einbruch der Nacht. Thiel aber hat keinen Blick für das Leben um ihn herum. Erst das bedrohliche Herannahen eines Zuges reißt ihn aus seiner Lethargie.

Wie erwachend, spricht Thiel den Namen seiner ersten Frau: Minna. Ob er zuvor bewusst über sie nachgedacht hat, ist nicht klar. Fest steht, dass er in der Folge unter innerer Unruhe leidet. Er nimmt verschiedene Tätigkeiten auf, kann sich aber auf keine konzentrieren. Da erinnert er sich an den Kartoffelacker, den er zur Freude Lenes geschenkt bekommen hat, und fängt an zu graben. Diese Tätigkeit beruhigt ihn schließlich doch, wenigstens vorübergehend, denn die Gedanken scheinen ihn wieder einzuholen. Thiel fängt an, mit sich selbst zu sprechen. Seine Gedanken richten sich darauf, dass Lene wegen des neuen Ackers zu ihm auf die »Bude« kommen wird. Sein Rückzugsort, der seiner verstorbenen ersten Frau gewidmet ist, wird dadurch bedroht. Deswegen beruhigt ihn das Graben auch nicht mehr, er kehrt in die Hütte zurück und stiert wieder vor sich hin. Er redet, ohne es zu merken.

Dabei wird ihm klar, wie wenig er die Realität an sich herangelassen hat. Dass Tobias bereits seit geraumer Zeit Opfer von Misshandlung zu sein scheint, wird ihm plötzlich bewusst. Dass er als Vater versagt, sich nicht für seinen Erstgeborenen eingesetzt, sich nicht gegen seine Frau gestellt hat – all das wird ihm schlagartig klar. Thiel gibt sich diesen Gedanken hin. Er quält sich eine geraume Zeit mit ihnen, bis er schließlich vor Erschöpfung einschläft.

Thiel erwacht, weil er wieder den Namen seiner ersten Frau gerufen hat. In der Hütte ist es finster, während draußen im Wald ein Unwetter tobt. Blitze und Donner lassen Thiel vollends erwachen. Wegen des zu erwartenden Schnellzuges muss er schnell an die Schranke und sie schließen. Das starke Wetter macht ihn frisch und tut ihm wohl. Er bemerkt, dass er im Traum geweint hat und erinnert sich.

Im Traum hat er Minna gesehen, die als Fliehende an ihm vorbeizog. Im Arm trug sie dabei ein blutiges Bündel. Es machte den Eindruck, als trüge Minna ihr sterbendes Kind – also Tobias – hinfort. Thiel wollte sie ansprechen, doch sie hörte nicht auf ihn. Von seinen Rufen erwachte er schließlich.

In diese Erinnerungen mischt sich der heranbrausende Zug, vor dem Thiel plötzlich eine unerklärliche Angst verspürt. Er weiß kurzzeitig nicht, was Traum und was Wirklichkeit ist. Ihm erscheint es, als würde die Minna aus seinem Traum auf den Gleisen stehen, sodass er den echten Zug anhalten müsse. Doch schon ist der Schnellzug vorbei.

Die restliche Schicht ist an Ruhe nicht mehr zu denken und Thiel lenkt sich damit ab, dass er die Strecke inspiziert. Schließlich, um 6 Uhr morgens, wird er abgelöst und macht sich ungeduldig auf den Weg nach Hause.

Nach dem Sturm erwacht ein schöner Morgen. Es ist Sonntag und nach und nach vergehen Thiels anstrengende Eindrücke. Der Anblick von Tobias macht ihn vollends glücklich und festigt ihn. Lene bemerkt eine neue, starke Art an Thiel. Am frühen Abend legt er sich ins Bett, weil er am Montag früh seinen Dienst antreten muss. Bei dieser Gelegenheit eröffnet Lene ihm, dass sie wegen des Ackers mitkommen wird. In Thiel arbeitet es. Als Lene, die ihm den Rücken zugedreht hat, ihn wieder ansieht, erschrickt sie. Thiel starrt sie auf eine unbekannte, leidenschaftliche, aber auch bedrohliche Weise an. Doch er fängt sich und legt sich schließlich schlafen.

Am nächsten Morgen bricht die Familie auf. Thiel ist zunächst missmutig, angesichts des aufgeräumten Wesens von Tobias verflüchtigt sich diese Stimmung aber. Für seinen Erstgeborenen wird ein echter Traum wahr: Er darf den Vater endlich auf der Arbeit besuchen. Dennoch bleibt Thiel unruhig.

An der Hütte angekommen, nimmt Lene den Acker in Augenschein und ist zufrieden. Sie macht sich sogleich an die Arbeit und gräbt um. Thiel geht mit Tobias fort, die Strecke zu inspizieren. Lene will Tobias zwar dabehalten, damit er sich um den Säugling kümmert, Thiel ignoriert sie aber und nimmt seinen ältesten Sohn mit.

Gemeinsam schauen sich Vater und Sohn die Strecke an, bestaunen die summenden Telegraphenmasten und pflücken Blumen. Schließlich sieht Tobias ein herumtollendes Eichhörnchen und fragt, ob das der liebe Gott sei.

Beim Mittagessen versteht sich die Familie prächtig, der Tag scheint auf die bestmögliche Art und Weise zu verlaufen. Nach Tisch nimmt Lene Tobias und den Säugling mit, damit sie die Kartoffeln stecken kann. Thiel überkommt eine plötzliche Furcht, doch er fügt sich schließlich.

Thiel muss seinen Dienst verrichten, ein Schnellzug ist angekündigt. Von fern sieht Thiel den Zug herankommen, als er ihn Notsignale ausstoßen hört. Thiel sieht, dass der Zug bremst, kann aber zunächst nicht erkennen, warum. Dann aber sieht er es: Auf der Strecke ist ein Mensch. Er wird vom Zug erfasst, während Thiel unfähig ist zu handeln. Da hört er einen furchterregenden, tierischen Schrei. Er ahnt, dass es Lene ist, die ihn ausstößt. Dann kommt ein Mann auf ihn zugelaufen, spricht ihn an, zuckt aber zurück. Augenscheinlich macht Thiel auf den Mann einen beängstigenden, verwirrten Eindruck. Auch wenn Thiel Opfer eines Schocks ist, ahnt er längst, dass es Tobias ist, der vom Zug erfasst wurde.

Die letztendliche Erkenntnis kommt ihm, als er den Körper seines schwer verletzten Sohnes sieht. Thiel ist dabei merkwürdig abwesend. Um ihn herum entfaltet sich betriebsame Hektik, er aber lächelt nur still. Lene wiederum schreit und leidet ostentativ. Sie beteuert, dass es nicht ihre Schuld gewesen sei. Thiel ignoriert sie.

Tobias wird in den Zug getragen und zum nächsten Arzt gefahren, Thiel – pflichtbewusst, wie er ist – bleibt auf seinem Posten. Er steht zwar noch immer unter Schock, verrichtet seine Arbeit aber wie gewohnt.

Da nicht viel zu tun ist, wartet er und zählt die Sekunden. Zwei Stunden sitzt er so, während in ihm eine Veränderung vorgeht. Thiel steht schließlich auf und tritt auf die Gleise. Dann fängt er an, mit der halluzinierten Minna zu sprechen. Er verspricht ihr, Lene physisch zu bestrafen, sie zu verprügeln, sie schließlich mit einem Beil zu schlagen. Thiel hat Schaum vor dem Mund; offenkundig verliert er den Verstand.

Als er ein Eichhörnchen auf den Gleisen sieht, erinnert er sich an die Frage von Tobias. Ein kleiner Moment der Klarheit kommt auf, dann fällt Thiel wieder in wahnhaftes Verhalten. Auslösend dafür ist der Schrei des Säuglings, der in der Aufregung irgendwo an den Schienen stehengelassen wurde. Thiel stürzt auf den Säugling zu, ruft den Namen Tobias und fängt an, seinen zweiten Sohn zu würgen. Doch bevor das Kind stirbt, kommt er noch einmal zu klarem Bewusstsein und lässt von ihm ab. Thiel ist erleichtert.

Kurz darauf fährt der Zug ein, in dem Tobias und Lene zurückgebracht werden. Tobias ist tot. Nach seinem wahnhaften Rausch ist Thiel nun ganz ruhig und gefasst. Er spricht weder mit Lene noch mit irgendjemandem sonst. Als der Zug wieder anfährt, fällt Thiel in Ohnmacht.

Bahnarbeiter tragen Thiel nach Hause, Tobias’ Leiche wird vorübergehend im Wärterhäuschen untergebracht. Lene und der Säugling folgen den Männern, die Thiel tragen, nach Hause. Dort angekommen, werden zunächst die Nachbarn durch Lene unterrichtet. Aber mit Lene ist eine Veränderung geschehen, sie wirkt nicht mehr so stark und widerspenstig wie zuvor. Es ist eine besonders dunkle Nacht; schließlich schläft die ganze Familie.

Am nächsten Morgen kommen einige Männer, die Tobias’ Leiche bringen wollen. Als sie die Haustür offen finden, treten sie ein und entdecken die Leichen des Säuglings und Lenes. Das Kind hat eine durchgeschnittene Kehle, Lene ist offensichtlich mit großer Gewalt erschlagen worden. Auf der Suche nach dem Täter finden sie ihn schließlich: Es ist Thiel, der die Mütze von Tobias in der Hand hält und sich vollends in den Wahn verloren hat. Er sitzt an der Stelle, wo das Unglück geschehen ist, und lässt sich nicht wegbewegen. Es bedarf mehrerer Männer, ihn von den Gleisen zu tragen. Mit der Einweisung Thiels in die psychiatrische Abteilung der Charité endet die Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt hat Thiel noch immer Tobias’ Mütze in der Hand.

Analyse

Das dritte Kapitel schließt nahtlos an das zweite Kapitel an. Durch diesen Bruch mit der Konvention wird das bewegte Innere Thiels auch strukturell abgebildet. Gleichzeitig zeigt dieses Mittel an, dass die Entwicklung Thiels, der unaufhaltsame Ausbruch seines Wahnsinns, eben genau das ist: nicht aufzuhalten. Kapiteleinteilungen können ganz allgemein als ordnender Eingriff in den Fluss einer Erzählung definiert werden. Ein ordnender Eingriff ist zu verstehen als eine Intervention, die durch die Vernunft geleistet wird – wobei Vernunft als Gegenbegriff zum Wahnsinn charakterisiert ist. Dadurch nun, dass die Handlung, die Abfolge der Ereignisse also, sich dem ordnenden Zugriff der Vernunft entzieht, zeigt sich der weiter umgreifende Wahn Thiels in seiner ganzen Unabwendbarkeit.

Dass der Wahnsinn unabwendbar ist, bedeutet allerdings nicht, dass es nicht zu luziden Momenten im Innenleben Thiels kommen würde. Ferner hilft Thiel seine auf Sorgfalt beruhende Arbeitsmoral: »Thiel begann wie immer so auch heute damit, das enge, viereckige Steingebauer der Wärterbude auf seine Art für die Nacht herzurichten. Er tat es mechanisch« (48). Sein Geist ist dabei allerdings bereits auf Abwegen (ebd.).

Hauptmann lässt den Naturalismus vor allem in seinen Naturschilderungen hinter sich. Der Wald dient als Ausdruck für das Innenleben Thiels. In ihm bereitet sich etwas vor. Allerdings wird Thiels psychischer Zustand nicht nur durch die Naturschilderungen wiedergegeben, sondern auch durch die Schilderung des herannahenden Zuges: »Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm und das schwarze, schnaubende Ungetüm, war vorüber« (50). So fungiert der Zug als echtes Dingsymbol, das weit mehr als das Innenleben des Bahnwärters zeigt. Der Zug, der sich gleichsam als Katastrophe ankündigt, dann aber, als würde der Bahnwärter noch einmal verschont, doch an ihm vorbeifährt, spiegelt damit den Fortgang der Handlung selbst. Man kann die Schilderung des Zuges als Ausdruck der ganzen Handlung, konzentriert auf ein kleines Ereignis, bezeichnen.

Aber das 3. Kapitel ist auch durch den Wechsel zwischen An- und Entspannung gekennzeichnet. Phasen, in denen Thiel beinahe den Verstand verliert, wechseln sich mit Partien ab, in denen er ruhig und gelassen ist. Unterstützt wird dieser Wechsel auf der strukturellen Ebene durch die Platzierung von Absätzen (50 und 58).

Im Verlauf des Kapitels kommt immer deutlicher zum Ausdruck, wie fremdbestimmt Thiel tatsächlich ist. Am Anfang der Novelle erscheint er als in sich ruhender Mensch, dem die äußere Welt nur wenig anhaben kann. Der Eindruck aber täuscht: Thiel ist ein getriebener Mensch, der zwischen seinen diversen Verpflichtungen aufgerieben wird.

Genau diese niemals erfüllbare Pflicht ist es, die ihn schließlich wahnsinnig werden lässt. Akustische Halluzinationen deuten auf innere Ruhelosigkeit (52), visuelle Halluzinationen zeigen, dass der latente Wahnsinn inzwischen manifest ist: »Thiel fühlte ein Grauen und, je näher der Zug kam, eine um so größere Angst; Traum und Wirklichkeit verschmolzen ihm in eins. Noch immer sah er das wandernde Weib auf den Schienen, seine Hand irrte nach der Patronentasche, als habe er die Absicht, den rasenden Zug zum Stehen zu bringen« (53). Doch auch dieser Anfall geht – vorerst – vorbei.

Die Situation scheint sich zu beruhigen, tatsächlich aber ist nur eine Verzögerung eingetreten. Das Schicksal der Familie Thiel erfüllt sich so, wie es in einer Tragödie – und diese Novelle ist letzten Endes eine Tragödie in Prosa – üblich ist. Der Zug, als Leitmotiv immer wieder als Bedrohung dargestellt, überrollt Tobias. Thiels Wahn bricht aus.

Gerade der Wahn ist auf eine technisch spannende Art und Weise gestaltet. Der Wahnsinn zeigt sich als Sprachverlust:

Ein Mann kommt in Eile die Strecke herauf. / ›Wärter!‹ / ›Was gibt's?‹ / ›Ein Unglück!‹... Der Bote schrickt zurück, denn des Wärters Augen spielen seltsam. Die Mütze sitzt schief, die roten Haare scheinen sich aufzubäumen. / ›Er lebt noch, vielleicht ist noch Hilfe.‹ / Ein Röcheln ist die einzige Antwort (59).

Und wenig später: »Thiel spricht nicht« (59). Als Thiel die Sprache wiedererlangt, sind es zunächst abgerissene Satzfetzen, die er äußert. Bezeichnenderweise spricht er mit seiner toten ersten Frau Minna, Wahn und Realität verschwimmen in den gleichfalls verschwimmenden Satzfetzen. Unversehens gleitet die Sprache Thiels ab in Gewaltfantasien: »Du – hörst du – bleib doch – du – hör doch – bleib – gib ihn wieder – er ist braun und blau geschlagen – ja ja – gut – ich will sie wieder braun und blau schlagen – hörst du? bleib doch – gib ihn mir wieder« (62). Die Halluzination kehrt wieder:

Es schien, als ob etwas an ihm vorüberwandle, denn er wandte sich und bewegte sich, wie um es zu verfolgen, nach der anderen Richtung / »Du, Minna« – seine Stimme wurde weinerlich, wie die eines kleinen Kindes. »Du, Minna, hörst du ? – gib ihn wieder – ich will...« Er tastete in die Luft, wie um jemand festzuhalten. »Weibchen – ja – und da will ich sie ... und da will ich sie auch schlagen – braun und blau – auch schlagen – und da will ich mit dem Beil – siehst du? – Küchenbeil – mit dem Küchenbeil will ich sie schlagen, und da wird sie verrecken« (62).

Und genau dieses Schicksal erfüllt sich. Gegen Ende ist von der lebhaften und robusten Lene nur noch ein Leichnam übrig: »Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit zerschlagener Hirnschale« (66). An seiner zweiten Frau verübt Thiel nicht nur einen Mord, es ist ein Massaker.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 6. April 2023.