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Bahnwärter Thiel

Zitate und Textstellen

  • Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen; das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war.
    – Erzählinstanz (37)

    An dieser Stelle wird einerseits gezeigt, wie pflichtschuldig Thiels Lebens verläuft. Obwohl sein Beruf im Wesentlichen darauf beschränkt ist, einen Schlagbaum zu bedienen und dies inmitten eines Waldes, durch den sich höchstens der Förster bewegt, ist Thiel seinem Beruf radikal ergeben. Interpretatorisch wichtiger scheint an dieser Textstelle aber zu sein, dass die Verletzungen, die immerhin stark genug waren, ihn von der Arbeit abzuhalten, vom Objekt seiner Arbeit selbst ausgingen. Mit anderen Worten: Thiels Arbeit selbst ist es, die ihn krank macht. Beide Gegenstände, die ihn verletzen, fallen vom Zug. Dies kann somit als Chiffre dafür gelesen werden, dass es die geistlose Arbeit selbst ist, die ein wesentliches Problem darstellt. So gesehen, kann auch Thiels Wahnsinn unter anderem auf die stumpfsinnige Arbeit zurückgeführt werden.

  • An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet; das war das Ganze.
    – Erzählinstanz (37)

    Lapidar wird hier das Ableben Minnas geschildert, es scheint fast, als sei das Läuten der Sterbeglocke das bedeutendste Ereignis ihrer Existenz. Funktional betrachtet, wird so allerdings ein großer Effekt hervorgerufen. Minna entfaltet ihre Wirkung auf Thiel schließlich erst nach ihrem Ableben. Erst im Tod wird sie zum Ideal und zur Halluzination. Das weist darauf hin, dass Minna als Person gar nicht so wichtig ist. Viel wichtiger ist sie als Projektionsfläche des wahrscheinlich von Anfang an psychisch kranken Thiel.

  • So ein ›Tier‹ müsse doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge, denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so, daß es zöge.
    – Erzählinstanz (39)

    Im ersten Kapitel ist das Urteil der Nachbarn omnipräsent. Die Erzählinstanz referiert immer wieder auf sie und ihre Meinung. So wird gezeigt, in was für einem Milieu sich Thiel aufhält. Offensichtlich ist dieses Milieu ein gewalttätiges, das wenig daran auszusetzen hat, die eigene Ehefrau zu verprügeln. Auch wenn der Mord, der Femizid, am Ende durch Thiel allein ausgeführt wird, trägt das Milieu mit seiner grundsätzlichen Gewaltaffinität eine Mitschuld.

  • Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig.
    – Erzählinstanz (39)

    Hier wird gezeigt, in welchem Maße Thiel die beiden Frauen mit Bedeutung auflädt. In seiner Bewertung werden beide zu bloßen Merkmalsträgerinnen. Auch dieser Umstand sollte in die Betrachtung des Mordes einfließen: Einen Merkmalsträger zu töten, ist etwas anderes, als einen Menschen zu ermorden. Durch die Zuschreibung bestimmter Rollen bewahrt sich Thiel davor, mit lebendigen Menschen in ihrer Komplexität umgehen zu müssen.

  • Vater, ist das der liebe Gott?
    – Tobias (57)

    Laut einem einschlägigen Lexikon gilt das Eichhörnchen als Symbol für den Teufel (Oesterreicher-Mollwo 40). Dass Tobias hier das Symbol des Teufels für Gott selbst hält, bedeutet, dass die Frage nach dem Guten und dem Bösen im Kontext der Novelle nicht so einfach beantwortet werden kann. Darin äußert sich aber weniger moralischer Relativismus, sondern eher ein Urteil über den freien Willen. Ist Thiel ein freier Mensch? Ist er verantwortlich für sein Tun? Diese Fragen lassen sich nicht einfach beantworten.

  • ›Was willst du werden?‹ fragte ihn der Vater, und diese Frage war stereotyp wie die Antwort des Jungen: ›Ein Bahnmeister.‹ Es war keine Scherzfrage, denn die Träume des Wärters verstiegen sich in der Tat in solche Höhen, und er hegte allen Ernstes den Wunsch und die Hoffnung, daß aus Tobias mit Gottes Hilfe etwas Außergewöhnliches werden sollte.
    – Erzählinstanz bzw. Thiel und Tobias (43)

    An dieser Textstelle zeigt sich die Beschränktheit von Thiels Existenzweise. Sein undankbarer, aufreibender und gleichzeitig völlig ereignisarmer Beruf kommt ihm als die Normalität vor, auf der der höhere Beruf des Bahnmeisters aufbaut. Dass der Beruf des Bahnmeisters hier hyperbolisch als etwas Außergewöhnliches bezeichnet wird, ist weniger Ironie als vielmehr die personale Wiedergabe der Empfindungen Thiels. Thiels Existenz ist so klein und eng, dass ihm dieser Beruf wie etwas schlichtweg Unerreichbares vorkommt. Freilich muss gesagt werden, dass der Beruf des Bahnmeisters für jemanden wie Thiel auch tatsächlich unerreichbar ist.

  • Plötzlich fuhr sie herum, ohne selbst zu wissen, aus welchem Grunde, und blickte in das von Leidenschaften verzerrte, erdfarbene Gesicht ihres Mannes, der sie, halbaufgerichtet, die Hände auf der Bettkante, mit brennenden Augen anstarrte. ›Thiel!‹ – schrie die Frau halb zornig, halb erschreckt, und wie ein Nachtwandler, den man beim Namen ruft, erwachte er aus seiner Betäubung, stotterte einige verwirrte Worte, warf sich in die Kissen zurück und zog das Deckbett über die Ohren.
    – Erzählinstanz bzw. Lene (55)

    An dieser Stelle wird gezeigt, wie tief und gleichzeitig unterdrückt der Hass ist, den Thiel für seine Frau empfindet. Das Adjektiv »erdfarben« weist dabei vor allem darauf hin, dass der Hass tiefenpsychologische Gründe hat, die weit über den einzelnen Menschen Thiel hinausgehen. Thiels Hass wird so um eine geradezu metaphysische Komponente ergänzt.

  • Thiel keuchte; er mußte sich festhalten, um nicht umzusinken wie ein gefällter Stier. Wahrhaftig, man winkt ihm – ›Nein!‹
    – Erzählinstanz bzw. (wahrscheinlich) Thiel (58)

    Diese Stelle ist wichtig, da hier der einzige Tempuswechsel der Novelle vorkommt. Sie ist im klassischen narrativen Präteritum verfasst, fällt aber angesichts der Katastrophe ins Präsens. Das ist nicht nur funktional von Bedeutung, sondern deutet auch auf etwas anderes hin. Die Gegenwart fungiert hier als Symbol für den Wahnsinn Thiels, der nun ausbricht. Wahnsinn kann auch als Geschichtslosigkeit verstanden werden; wer wahnsinnig ist, hat kein Zeitgefühl, keine Geschichte mehr. Man könnte den Wahn als ewigen Mittag bezeichnen, als reine Präsenz, die jeglicher Chronologie ermangelt.

  • ›Du, Minna, hörst du? – gib ihn wieder – ich will…‹ Er tastete in die Luft, wie um jemand festzuhalten. ›Weibchen – ja – und da will ich sie … und da will ich sie auch schlagen – braun und blau – auch schlagen – und da will ich mit dem Beil – siehst du? – Küchenbeil – mit dem Küchenbeil will ich sie schlagen, und da wird sie verrecken. Und da … ja mit dem Beil – Küchenbeil, ja – schwarzes Blut!‹
    – Thiel (62)

    Diese Textstelle repräsentiert eine andere Seite von Wahnsinn. Wahnsinn kann sich in der Unfähigkeit äußern, Reihenfolgen einzuhalten. Wahnsinnige sind erratisch, haben Gedächtnis- und oft auch massive Sprachprobleme. Sprache wiederum bedarf unbedingt einer Linearität und Chronologie, Sprache ohne inhärente Ordnung ist keine Sprache im eigentlichen Sinne mehr. Ohne Sprache jedoch fällt auch das Subjekt in sich zusammen, da es der Sprache bedarf, um sich über die Diskurse hinweg aufrechtzuerhalten. Die zerstörte Sprache Thiels zeigt, dass er als Subjekt zerstört ist.

  • ›Der liebe Gott springt über den Weg‹, jetzt wußte er, was das bedeuten wollte.
    – Thiel (63)

    Nachdem Thiels Wahnsinn zunächst eher delirante Züge angenommen hatte, kommt es an dieser Stelle zu einem vorübergehenden Moment der Klarheit. Wichtig ist diese Textstelle aber vor allem, weil sie zeigt, dass die Klarheit, die Thiel verspürt, nur scheinbare Klarheit ist. Denn der Satz hat keine Bedeutung, er ist ein Produkt seines Wahnsinns. In Thiels angegriffenem Gehirn jedoch wird der sinnlose Satz mit Bedeutung aufgeladen, wobei diese Bedeutung in der Aufforderung besteht, Lene und den Säugling umzubringen. Das wiederum ist eine Entscheidung, die Thiel schon lange vorher getroffen hat, allerdings ohne es zu merken. Es ist daher völlig egal, wie der Satz lautet, die Bedeutung, die Thiel ihm zuschreibt, ist ohnehin festgelegt.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.