Skip to main content

Bahnwärter Thiel

Figuren

Figurenkonstellation

Bahnwärter Thiel – Figurenkonstellation
  • Thiel

    Auf den ersten Blick erscheint Thiel als ein schlichter und eher eindimensionaler Charakter. Pflichtbewusst, wortkarg und fromm – der Bahnwärter erscheint als Musterbeispiel eines preußischen Untertanen. Seinen Dienst versäumt er nur aufgrund schwerwiegender Verletzungen (37), er ist kein Trinker, schlägt weder seine Frau noch seine Kinder. Ja, gerade den Kindern gegenüber erweist er sich als sanftmütiger Mann. Er bringt ihnen Spiele bei, fragt sie aber auch ab. Gerade seinem Erstgeborenen gegenüber ist Thiel ferner sehr zärtlich und geduldig. Man sieht, wie sehr er seinen Sohn liebt (57). Und dennoch ist es der gleiche Thiel, der zunächst einen Mordversuch an seinem eigenen Sohn, dem jüngeren freilich, begeht und ihn dann schließlich mitsamt dessen Mutter, seiner Ehefrau Lene, ermordet. Zwischen dem Thiel, der zu Beginn des Textes steht, und dem, der sich im Wahnsinn verloren hat, scheint zunächst keine Verbindung zu herrschen. Thiel, um es etwas salopp zu formulieren, verliert eben den Verstand, ist nicht mehr Thiel, als er in die Charité eingeliefert wird. Aber so einfach ist das eben nicht.

    Thiel hat ausgeprägte »mystische Neigungen« (40) – ein Verdikt, das sich zunächst jeder moralischen Implikation entzieht, es steht aber doch in merkwürdigem Widerspruch zur weltlichen Pflichterfüllung des Bahnwärters. Mystiker tendieren dazu, sich in Gedanken zu fliehen, die Welt nicht an sich heranzulassen, und genau das tut Thiel auch. Allerdings ist er durch seine extreme Fokussierung auf Pflicht und Aufgabe gleichzeitig radikal anti-mystisch. Hier zeigt sich bereits, dass eine gewisse Zerrissenheit das Wesen Thiels prägt. Diese Zerrissenheit äußert sich auch in den beiden Frauen, die er ehelicht. Auf der einen Seite ist da die stille, fromme Minna, die seinem Charakter so sehr zu entsprechen scheint. Beide gehen jeden Sonntag in die Kirche, beide geben den Nachbarn keinen Grund, sich zu mokieren. Minna hingegen, die zweite Frau, passt charakterlich – so sehen es jedenfalls die Nachbarn (38) – überhaupt nicht zu Thiel. Dafür entspricht ihr Äußeres dem Thiels. Sie ist grob, massiv und voller Kraft. Genau das trifft auch auf Thiel zu, seine Gestalt wird als »herkulisch« (37) bezeichnet.

    Bezeichnend ist, dass nicht nur zwischen den beiden Frauen so ein Unterschied besteht, sondern dass auch innerhalb Thiels dieser Unterschied hochrelevant ist. Charakterlich ist er der stille, sanfte Mystiker, der seiner Frau treu ergeben ist. Körperlich aber ist er ein grobschlächtiger Mann, der von seiner zweiten Frau gerade auch sexuell völlig abhängig ist. Diese extreme Spannung lässt den Schluss zu, dass es mit diesen klaren Identitäten – also der körperlich-groben und der geistig-feinsinnigen Identität – nicht wirklich weit her ist. Der Verdacht drängt sich auf, dass Thiel zwar das Ideal hat, ein feinsinniger, sanfter Mensch zu sein, tief in ihm befindet sich aber genau die Bestie, die er zu unterdrücken sucht. Die peinlich genaue Pflichterfüllung erscheint so auch gar nicht als Tugend, sondern vielmehr als verzweifelter Versuch von Rationalisierung. Thiel zwingt sich ein starres Korsett von Verbindlichkeiten auf, um sich selbst zu domestizieren. Dies gelingt ihm auch zehn Jahre lang, aber in dem Moment, in dem es zur Katastrophe kommt, schafft er es nicht mehr, das Triebwesen unter Kontrolle zu bringen. Genau das kündigt sich aber auch schon an. Die starre Trennung von Arbeit und Zuhause, die intensive Liebe, die er Tobias zukommen lässt, die Indifferenz, mit der er – der doch Kinder angeblich liebt – seinem Zweitgeborenen gegenübertritt: Seine Tat ist nicht so willkürlich, wie sie vielleicht erscheinen mag, sie erwächst notwendig aus seiner inneren Zerrissenheit. Thiel ist ein Mensch, der von Anfang an eine gefährliche psychische Verfassung aufweist. Und genau darin ist er das Musterbeispiel eines preußischen Untertanen.

  • Lene

    Thiels zweite Frau ist eindeutig negativ gezeichnet. Sie ist ein zänkisches, unsympathisches Wesen, das Thiel unterdrückt. Sie schafft es, ihn zu unterdrücken, indem sie ihn in sexuelle Abhängigkeit versetzt. »[Thiel], der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig« (39). Aber diese Interpretation ist mit Vorsicht zu genießen. Was berechtigt eigentlich dazu, zu glauben, die sexuelle Unterdrückung ginge von Lene aus? An keiner Stelle des Textes tritt Lene als Verführerin, als Femme fatale auf. Im Gegenteil: Lene hat ein instrumentelles, man könnte auch sagen: ein sehr natürliches Verhältnis zum eigenen Körper. Ihr Körper ist ihr Arbeitsgerät, keine mystisch aufgeladene Entität, die erst durch diese Mystik zum sündigen Objekt wird. »Der Wärter brummte einige unverständliche Worte, die Lene weiter nicht beachtete. Sie hatte ihm den Rücken gewandt und war beim Scheine eines Talglichtes damit beschäftigt, das Mieder aufzunesteln und die Röcke herabzulassen. Plötzlich fuhr sie herum [...] und blickte in das von Leidenschaften verzerrte [...] Gesicht ihres Mannes. ›Thiel!‹ – schrie die Frau, halb zornig, halb erschreckt« (55). An dieser Stelle wird deutlich, dass es Thiels Trieb ist, der die Frau sexualisiert. Weil sich Thiel seiner Sexualität als gläubiger Christ Ende des 19. Jahrhunderts aber schämt, erwächst aus ihr reine Aggression, die sich auf das Objekt seiner Lust, Lene nämlich, erstreckt. Er hasst sie dafür, dass er sie begehrt.

    Dennoch ist Lene keine sehr sympathische Frau und es hat den Anschein, als werde Tobias von ihr schlimm misshandelt. Und es stimmt, dass sie extrem unfreundlich zu ihm ist: Sie beleidigt ihn, brüllt ihn an, erhebt sogar die Hand gegen ihn – wobei nur Thiels Eintreten sie davon abzuhalten scheint, Tobias zu schlagen (46 f.). Außerdem entdeckt Thiel auf der Wange von Tobias Spuren, die verdächtig nach einer Ohrfeige aussehen (42). Aber Zeuge tatsächlich verübter Gewalt wird Thiel nicht. Was der Leser allerdings in Form einer Teichoskopie mitbekommt, ist, dass Tobias seinen kleinen Bruder geschlagen hat (46). Es spricht dabei moralisch nicht für sie, dass sie einen starken Unterschied zwischen ihrem Sohn und Tobias macht, dennoch scheint Tobias so unschuldig nicht zu sein. Und auch was den starken Unterschied bezüglich der Zuneigung betrifft, ist Lene nicht die einzige. Nach dem Unfall etwa spricht Thiel von seinem Zweitgeborenen als Lenes »Balg« (63), dabei ist es eben auch sein Sohn. Lene für die schließlich eintretende Katastrophe allein verantwortlich zu machen, greift also definitiv zu kurz. Sympathisch ist sie nicht, aber die Bestie ist ihr Ehemann.

  • Tobias

    Tobias ist der Sohn aus erster Ehe und wird eingangs als entwicklungsverzögert bezeichnet (41). Genau dafür gibt es merkwürdigerweise im Verlauf des Textes aber keine weiteren Hinweise. Das lässt darauf schließen, dass Tobias’ langsame Entwicklung eher symbolischen Charakter hat. Im Naturalismus, dem der frühe Hauptmann nahestand, kommt der Denkfigur der Degeneration hohe Bedeutung zu (Bunzel 25 ff.). Tobias deutet also mit seiner langsamen Entwicklung darauf hin, dass es um das Erbgut – oder anders ausgedrückt: die Anlagen Thiels – nicht zum Besten bestellt ist. Auch dass Tobias’ Mutter Minna in ihrer Körperlichkeit fragil ist und dann im Wochenbett stirbt, deutet auf Krankheit und Schwäche hin. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Ideologie des Sozialdarwinismus, die ihren Niederschlag auch im Naturalismus findet, en vogue. Der Sozialdarwinismus geht davon aus, dass nur die stärksten, nur die gesunden, physisch und sexuell aktiven Menschen überleben können und darum auch nur sie das Überleben verdient haben. So menschenverachtend diese Ideologie auch ist, Ende des 19. Jahrhunderts war sie hochmodern.

  • Minna

    Thiels erste Frau scheint zunächst keine große Rolle in der Novelle zu spielen. Die Schilderung ihres gemeinsamen Lebens mit Thiel beschränkt sich auf vier Sätze (37). Tatsächlich aber entfaltet Minna durch ihr Ableben und ihren Sohn Tobias eine immense Wirkung auf Thiel.

    Minna wird als »schmächtige[s] und kränklich aussehende[s] Frauenzimmer« (37) beschrieben. In der kleinen Siedlung, in der Thiel und Minna leben, herrscht allgemein die Ansicht vor, sie würden nicht recht zueinander passen, wobei sich dieses Urteil vor allem an dem Aussehen der beiden festmacht. Minnas »hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter gebräunten« (37) – den Dorfbewohnern scheint dieses Paar zu missfallen. Allerdings erwächst aus der nachbarlichen Missbilligung kein tiefergehender Konflikt. Nach zwei Jahren Ehe stirbt Minna im Wochenbett und hinterlässt den entwicklungsverzögerten Tobias, auf den sich fortan die Liebe des Vaters Thiel konzentriert.

    Nachdem Minna gestorben ist, spielt sie für Thiel aber weiterhin eine große Rolle. Seine Beziehung zu Lene, die er selbst als eine Art Vernunftehe schildert (38), erscheint Thiel als unrein (40). Deswegen richten sich seine Gedanken desto stärker auf Minna, wobei ihm die Beziehung, die die beiden geführt haben, als eine Art Ideal vorzukommen scheint. Seine Verehrung der Toten geht so weit, dass er Gespräche mit ihr führt und Halluzinationen von ihr hat. Sogar der Mord, den er an Lene und dem gemeinsamen Sohn verübt, scheint auf Minna zurückzugehen. Er verspricht ihr, für den Fall, dass Tobias nicht sterben sollte, Lene »mit dem Beil« zu erschlagen (62). Obwohl Minna von Thiel also als besonders rein wahrgenommen zu werden scheint, hat die Rolle, die sie für ihn und seine Psychohygiene spielt, keine guten Implikationen. Allerdings ist nicht gesagt, ob die Figur, die Thiel nach Minnas Ableben mit dieser identifiziert, wirklich viel mit seiner verstorbenen Frau gemein hat. Da sich die Schilderung der lebendigen Minna auf besagte vier Sätze bezieht, ist über die Minna, die sich nicht in Thiels Kopf befindet, eigentlich nichts auszusagen.

  • Der Säugling

    Den Säugling eine Figur zu nennen, ist eigentlich zu viel gesagt, er fungiert vornehmlich als eine Art Gegenstand, der die Aufgabe hat, die Handlung voranzutreiben. Auffällig an ihm ist, dass er keinen Namen zu tragen scheint. Hier zeigt sich, wie wenig Thiel an dem Kind hängt. Denn angesichts der Frömmigkeit Thiels ist es unwahrscheinlich, dass das Kind ungetauft ist. An zentraler Stelle bezieht sich Thiel auf seinen Zweitgeborenen als »Balg« (63). Gipfelnd in dem Mordversuch, den Thiel zunächst an seinem Sohn unternimmt (63), und dem Mord, den er schließlich an ihm begeht (66), fällt die extreme Lieblosigkeit des Vaters auf, der doch selbst gegenüber den Kindern des Dorfes liebevoll ist (43). Das könnte für einen tiefsitzenden Hass gegenüber Lene sprechen, der sich vollends auf das Kind überträgt. Doch auch diese Erklärung muss unbefriedigend bleiben, denn es handelt sich nach wie vor um seinen eigenen Sohn.
    Somit ist die Funktion, die der namenlose Säugling in der Novelle erfüllt, vor allem eine charakterisierende. Der Säugling zeigt an, dass Thiel ein zutiefst widersprüchlicher Charakter ist. Er weist auf eine Gefahr hin, die von Thiel ausgeht.

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.