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Bahnwärter Thiel

Prüfungsfragen

  • Ist es sicher, dass Lene wirklich so böse ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint? Argumentieren Sie.

    Tatsächlich erscheint das als eher unwahrscheinlich. Die Szene, in der Tobias misshandelt wird, ist schließlich aus der Sicht des latent verrückten Thiel geschildert. Auch die Beobachtung Thiels, dass sich auf Tobias’ Wange die Spur einer Ohrfeige zeigt, kann nicht unhinterfragt übernommen werden, denn schließlich ist Thiel bereits hier von latentem Wahnsinn gekennzeichnet.
    Andere Urteile über Lene entstammen den Nachbarn, diese aber disqualifizieren sich allein schon durch die missgünstige Art und Weise, mit der sie Lene schildern.
    Allerdings muss zugestanden werden, dass Lene eine eher unsympathische Person ist. Aber auch wenn sie charakterliche Defizite aufweisen mag, eine regelrechte Bösartigkeit lässt sich daraus nicht ableiten.

  • Warum werden gerade im ersten Kapitel immer wieder indirekte Zitate der Nachbarn zur Schilderung der Verhältnisse im Hause Thiel benutzt? Welchen Effekt könnte diese Technik haben?

    Im Naturalismus kommt dem sogenannten »Milieu« wesentliche Bedeutung zu. Damit ist gemeint, dass die Lebensumstände eines Menschen dessen Perspektiven und Möglichkeiten determinieren. Da die Nachbarn sich als missgünstig und gewaltaffin herausstellen, ist es nur folgerichtig, dass die Geschichte mit einer schrecklichen Gewalttat endet.
    Ganz nebenbei wird so aber auch eine höhere Authentizität des Geschilderten erreicht. Die Erzählinstanz verweist auf die Aussagen Dritter. Dies hat den Effekt, dass die Aussagen der Erzählinstanz selbst Unterstützung erfahren.

  • Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Bahngleisen und Rehböcken interpretieren? Betrachten Sie dazu die Textstellen (41) und (65).

    Die Textstelle auf Seite 41 verweist auf einen Rehbock, der vom Zug überfahren wird. Hier hat die Kultur bzw. die Technik, die mit dem Zug symbolisiert wird, die Natur, die mit dem Rehbock symbolisiert wird, zerstört. An späterer Stelle der Handlung zeigt sich ein anderer Rehbock auf den Gleisen (65). Dieser Rehbock ist bereits an die Technik gewöhnt: Auf den Pfiff des Zuges hin flüchtet er. Damit wird gezeigt, dass die Natur sich von der Technik nicht unterdrücken lässt. Natur mag von Kultur/Technik zurückgedrängt werden, doch dieses Zurückdrängen ist immer nur temporär. Natur besteht nicht zuletzt in Entropie, also der Tendenz aller Systeme, sich in Unordnung aufzulösen, solange es nicht zu ordnenden Eingriffen kommt. Da das Verhältnis allerdings dialektisch ist – was nicht einfach nur wechselseitig meint, sondern auch bedeutet, dass die jeweiligen Schritte sich gegenseitig verstärken –, kommt Natur immer stärker zurück, sodass die ordnenden Eingriffe schließlich ein menschenmögliches Maß übersteigen.

  • Erläutern Sie, welche Funktion die Schilderungen des Waldes erfüllen.

    Der Wald spiegelt in der Geschichte Thiels Innenleben wider. Wenn Thiel sich fürchtet, wird der Wald unheimlich (45). Wahnsinnsattacken von Thiel gehen mit einem Gewitter einher (51). Momente der Klarheit werden ebenfalls durch den Wald repräsentiert (54). Das deutet darauf hin, dass Thiel eine Verbindung zum Wald und damit zur Natur hat, die auch mitten in der Industrialisierung nicht abgerissen ist. Der Mensch ist zwar ein kulturelles Wesen, gleichzeitig aber auch ein natürliches.

  • Warum ist das semantische Feld »Flüssigkeiten« so häufig im Text zu finden? Erläutern Sie.

    Im Text wird immer wieder auf Flüssigkeiten verwiesen, so treibt der Wind »leise Wellen den Waldrand hinunter« (49), die Sonne »[gießt] Ströme von Purpur über den Forst« (49) und »Krähenschwärme [baden]« (45) in der Luft. Dadurch wird auf zweierlei hingewiesen. Zunächst zeigt es, dass alles miteinander zusammenhängt: die Aggregatzustände sind nur Extreme, denn Wasser kann Eis, Dampf oder Flüssigkeit sein. Himmel und Erde gehen so ineinander über, da der Regen als Flüssigkeit die verbindende Klammer zwischen ihnen ist. Andererseits zeigt das Stilmittel aber auch an, wie es um Thiel bestellt ist. Seine Individualität ist durch seinen Wahnsinn massiv bedroht. Die Grenzen seines Ichs drohen zu zerlaufen. Der alles umgreifende Zusammenhang ist also nicht so positiv, wie er sich zunächst darstellt. Die Auflösung des Ichs ist eine Form der Befreiung, aber auch eine schreckliche Gefahr.

  • Ist das Schicksal der Familie abwendbar oder tritt die Katastrophe zwangsläufig ein? Argumentieren Sie.

    Gemäß der Theorie des Naturalismus ist das Schicksal nicht wirklich abwendbar. Es müssten schon unerhörte Zufälle geschehen, damit Thiel nicht verrückt wird. Auch ergibt sich aus der Struktur der Novelle, die wie eine Tragödie aufgebaut ist, notwendig die Katastrophe am Schluss. Thiel ist von Anfang an ein zerstörter Charakter – das Schicksal ist also nicht abwendbar.

  • Ist es von Bedeutung, dass die Ortsnamen auf reale Ortschaften verweisen?

    In klassischen Novellen, zum Beispiel Heinrich von Kleists »Marquise von O…«, werden Ortsnamen oftmals nicht ausgeschrieben. Das hat den Effekt, dass das Geschehen Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Die Aussage dahinter ist: Das, was sich hier zugetragen hat, kann sich überall zutragen. Dass Hauptmann reale Ortsnamen wählt, ist also ein Traditionsbruch, gleichzeitig sorgt es für Authentizität. Wenn es die Orte wirklich gibt, dann hat es vielleicht auch das Geschehen wirklich gegeben. Eine ähnliche Funktion hat heute z. B. im Filmvorspann der Hinweis: »Basierend auf einer echten Geschichte«. Auch hier ist das Ziel, eine höhere Glaubwürdigkeit zu erreichen. Das Spannende ist, dass die Nichtnennung der Ortsnamen in klassischen Novellen das Gleiche erreichen wollte. Hier zeigt sich der Unterschied im Bewusstsein der Menschen vor und nach der Industrialisierung. In der Vormoderne entsteht Authentizität dadurch, dass sich das Geschehen überall so, wie es geschildert wurde, hätte zutragen können. In der Moderne wiederum ist es der naturgetreue, verifizierte Einzelfall, der Authentizität hervorruft.

  • Warum will Thiel die rigorose Trennung zwischen Arbeit und Heim aufrechterhalten?

    Die einfachste Antwort ist, dass Thiel eine massive Persönlichkeitsstörung hat, die sich durch die räumliche Trennung am einfachsten ertragen und als ungelöste Störung aufrechterhalten lässt. Er hat zwei Leben, die die beiden Seiten seiner Persönlichkeit repräsentieren. Es dürfte aber komplizierter sein. Thiel ist innerlich zerrissen. Einerseits hält er ein unerreichbares Ideal hoch: die vergeistigte Liebe zu Minna. Andererseits ist er seinen eigenen Trieben unterworfen. Auf der Arbeit gibt es für ihn nur eiserne Pflicht und Vernunft. Zuhause geht es um die Liebe für seinen Sohn und um sein geschlechtliches Begehren gegenüber Lene. Die Widersprüchlichkeit seines Charakters kann nur so lange ausgehalten werden, wie er die krasse räumliche Trennung durchhält.

  • Inwiefern ist die Geschichte typisch für den Naturalismus?

    Die Geschichte ist in der Grundannahme, dass das Milieu sämtliche Lebensäußerungen prägt, typisch für den Naturalismus. Gleichzeitig ist es paradigmatisch, dass die Existenz von Kleinbürgern im Fokus steht. Historisch gesehen, bildeten vor dem bürgerlichen Trauerspiel, wie es sich im deutschen Raum erstmals bei Lessing zeigt, Adelige das Personal von Romanen und Dramen. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel ändert sich das, wobei noch die unmittelbare Vorgängerbewegung des Naturalismus – der Realismus, wie er zum Beispiel von Fontane vertreten wird – sich auf das Bürgertum bezieht. Der Naturalismus nun sucht sich bevorzugt sogenannte einfache Menschen zum Personal. Genau deswegen ist Bahnwärter Thiel typisch für den Naturalismus.

  • Wofür könnten die Gleise und die Züge symbolisch stehen? Was drücken sie aus? Erläutern Sie.

    Sie stehen vor allem für den Fortschritt und die Industrialisierung. Wichtig dabei ist aber, dass sie keine positiv besetzten Symbole sind. Die Züge werden immer wieder als Gefahren geschildert, die Gleise schneiden mitten durch den Wald. Der Fortschritt wird hier also vor allem negativ interpretiert. Das sieht man auch daran, dass die beiden Verletzungen, die Thiel erleidet, von den Zügen ausgehen (37).

Veröffentlicht am 4. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. April 2023.