Bahnwärter Thiel

»Bahnwärter Thiel« ist die Hauptfigur der gleichnamigen Novelle von Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1888. Thiels geliebter Sohn aus erster Ehe kommt bei einem Unfall ums Leben. Dies treibt den verzweifelten Mann zu zwei Morden. Die Novelle spielt Ende des 19. Jahrhunderts in dem Ort Schön-Schornstein und in Thiels Wärterhäuschen an der Bahnstrecke zwischen Berlin […]

Werkdaten

Titel
Bahnwärter Thiel
Vollständiger Titel
Bahnwärter Thiel: Novellistische Studie
Gattung/Textsorte
Erscheinungsjahr
1888
Originalsprache
Deutsch
Literarische Epoche oder Strömung

Inhaltsangabe

»Bahnwärter Thiel« ist die Hauptfigur der gleichnamigen Novelle von Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1888. Thiels geliebter Sohn aus erster Ehe kommt bei einem Unfall ums Leben. Dies treibt den verzweifelten Mann zu zwei Morden. Die Novelle spielt Ende des 19. Jahrhunderts in dem Ort Schön-Schornstein und in Thiels Wärterhäuschen an der Bahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt/Oder.


Bahnwärter Thiel ist ein ruhiger und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren zuverlässig seiner Arbeit nachgeht. Mit seiner Frau Minna hat er einen gemeinsamen Sohn, Tobias. Als Minna stirbt, ist das ein schwerer Schicksalsschlag für Thiel.

Etwa ein Jahr später heiratet Thiel die dicke, herrschsüchtige Magd Lene. Es ist eine Vernunftehe, denn Thiel will nicht, dass Tobias ohne Mutter aufwächst. Lene wird schwanger und bringt Thiels zweites Kind zur Welt. In der Folge wird Tobias von Lene immer mehr vernachlässigt.

Bald wird Lene zum neuen Oberhaupt der Familie. Thiel kann sich ihr nicht widersetzen. Er ist sexuell und psychisch von Lene abhängig. Selbst als er mitbekommt, dass Tobias von Lene regelrecht misshandelt wird, ist er nicht im Stande etwas zu unternehmen. Dabei wird er innerlich von der Schuld gegenüber seiner verstorbenen Frau zerfressen. Er hatte ihr nämlich versprochen hatte, gut auf Tobias aufzupassen.

Thiel flüchtet sich, von seinem Gewissen geplagt, immer mehr in eine Art Phantasiewelt, in der er auch Visionen von seiner verstorbenen Frau hat. In dem kleinen Wärterhäuschen an der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder gibt er sich diesen Visionen von Minna hin. Sein Verhalten wird zunehmend krankhaft.

Eines Tages wird Thiel am Bahnwärterhäuschen etwas Land überlassen, welches sofort von Lene zum Kartoffelpflanzen übernommen wird. Thiel ist nicht damit einverstanden, dass Lene auch in seinen Arbeitsbereich eindringt. Doch er fügt sich. In der Folge macht sich die gesamte Familie zu dem Wärterhäuschen auf. Dort unternimmt Thiel einen Spaziergang allein mit Tobias. Dieser ist von der Arbeit seines Vaters begeistert. Er möchte später selbst einmal Bahnmeister werden. Thiel ist von Stolz erfüllt. Als Thiel am Nachmittag seinen Dienst antritt, bittet er Lene, auf Tobias aufzupassen.

Ein Schnellzug kommt angerast. Plötzlich fängt er an zu bremsen und Notsignale zu geben. Thiel rennt sofort zur Unglücksstelle. Er findet Tobias schwer verletzt. Der Junge ist von dem Zug erfasst worden. Noch atmend, jedoch mit schweren Verletzungen, wird Tobias zur nächsten Krankenstation gebracht.

Thiel geht zurück an seine Arbeit; er ist wie betäubt und flüchtet sich erneut in Visionen: Er verspricht seiner Frau Minna Rache. Seiner Meinung nach trägt Lene die Schuld an dem Unfall. Sie hatte anscheinend nicht auf Tobias aufgepasst. Sein Hass gegen Lene wird immer größer. Plötzlich fängt der Säugling an zu weinen. Rasend vor Wut, beginnt Thiel das Baby zu würgen.

Erst das Warnsignal des Zuges, der seinen Sohn zurückbringt, reißt ihn zurück in die Wirklichkeit. Vom letzen Wagen wird Tobias‘ Leichnam getragen. Nach ihm steigt Lene aus. Thiel bricht beim Anblick seines toten Sohnes bewusstlos zusammen. Er wird von Arbeitern nach Hause getragen. Den Leichnam will man später holen. Zu Hause kümmert sich Lene aufopferungsvoll um Thiel. Völlig erschöpft schläft sie anschließend ein.

Einige Stunden später wird Tobias‘ Leichnam von den Arbeitern nach Hause gebracht. Dabei entdecken sie Lene und ihr Kind: Lene wurde erschlagen, dem Baby die Kehle durchschnitten. Thiel wird später an der Stelle gefunden, an der der Zug seinen Sohn erfasst hat. Er sitzt auf den Gleisen und streichelt Tobias‘ Mütze. Thiel wird in die Irrenanstalt der Charité eingeliefert.


»Bahnwärter Thiel« ist ein Klassiker der deutschen Literatur. Die Novelle schildert die psychische Abhängigkeit eines Menschen von anderen, und die damit verbundene Unfähigkeit sein eigenes Leben zu leben. Thiel ist sowohl von Minna abhängig, so dass er sich immer wieder in eine Art Phantasiewelt flüchtet, als auch von Lene, der er sich nicht widersetzen kann. Das stille und unauffällige Leben Thiels wird – symbolisch – von einem Schnellzug erfasst. Getrieben von Schuld gegenüber seiner verstorbenen Frau, und ausgelöst durch den Tod seines Sohnes, wird aus dem frommen, ruhigen Mann ein Frauen- und Kindermörder.

Veröffentlicht am 25. Januar 2010. Zuletzt aktualisiert am 27. September 2022.

Autor des Werkes

Deutscher Dramatiker, der 1912 den Literaturnobelpreis erhielt
Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann wurde 1862 im schlesischen Ober Salzbrunn geboren. Nach wechselvollen Lehr- und Wanderjahren, in denen er sich erfolglos als Maler und Bildhauer versucht und ein Literatur- und Philosophiestudium abgebrochen hatte, zog er 1889 mit seiner Frau und seinen Söhnen…

Kurze Zusammenfassung

Thiel heiratet nach dem Tod seiner ersten Frau die Kuhmagd Lene, weil er seinen Sohn Tobias betreut wissen möchte. Die neue Frau hat Thiel mit ihrer sexuellen Kraft bald völlig in ihrer Gewalt.

Thiel hat sich in seinem abgelegenen Bahnwärterhaus ein Heiligtum für die erste Frau eingerichtet und hält die zweite Frau davon fern. Da ein Kartoffelfeld, das Thiels zur Pacht bekommen haben, in der Nähe des Bahnwärterhauses liegt, dringt sie zu Thiel vor.

Bei einem Besuch auf dem Acker wird Tobias von einem Schnellzug erfasst und stirbt. Thiel tötet in einem Anfall von Wahnsinn seine Frau sowie das gemeinsame Kind; er wird in die Irrenabteilung eingeliefert.

Epoche und historischer Kontext

Gerhart Hauptmann lebte von 1862 bis 1946. Erste dichterische Erfolge erlebte er nach 1885 in Berlin. 1889 löste sein soziales Drama »Vor Sonnenaufgang« einen Theaterskandal aus.

»Bahnwärter Thiel« erschien 1888 als Text des deutschen Naturalismus. Der hatte sich nach Reichsgründung 1871 und Sozialistengesetz 1878 aus enttäuschten Hoffnungen junger Schriftsteller und in Opposition zum Deutschen Reich, orientiert an ausländischen Vorbildern wie Zola und Ibsen, entwickelt.

Vernachlässigte soziale Gruppen wie Arbeiter, Kleinbürger und kleine Beamte, auch Ausgestoßene, Dirnen, Wahnsinnige und Alkoholiker rückten in die Figurenensembles ein; ästhetische Schönheit trat zu Gunsten einer wahrhaftigen und naturgetreuen Abbildungen der Problemfelder zurück. Der Schriftsteller sollte nur noch bedingt Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, im übrigen Protokollant der Wirklichkeit sein.

Neue Themen wie technische Anlagen, die Eisenbahn und Verkehrssysteme wurden ebenso beschrieben wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse (Vererbungslehre, Milieutheorie, Psychoanalyse). Literatur sollte möglichst nahe an Wissenschaft herangeführt und mit vergleichbaren Gesetzen beschreibbar werden.

Gerhart Hauptmann wurde zum Repräsentanten des deutschen Naturalismus für das Theater, sein soziales Drama »Vor Sonnenaufgang« bedeutete den Sieg des Naturalismus auf der Bühne. Soziale, ökonomische und naturwissenschaftliche Probleme drangen auch in seine Dichtung ein.

Entstehung und Quellen

Die »novellistische Studie« geht auf einen Unglücksfall an der Bahnstrecke von Erkner nach Fürstenwalde zurück und nutzt Erfahrungen des Dichters während seines Lebens am Rande von Berlin. Ein genaues Ereignis konnte nicht ermittelt werden. Ortsangaben, Milieu und Landschaftsbeschreibungen entsprechen den vorhandenen Verhältnissen.

Bei ihrer Veröffentlichung in der naturalistischen Zeitschrift »Die Gesellschaft« stand die »Studie« inmitten von Beiträgen zum entscheidenden naturalistischen Vorbild Henrik Ibsen und neben einer berühmten naturalistischen Programmschrift Conrad Albertis.

Lektürehilfe

Königs Erläuterungen zu »Bahnwärter Thiel«

Verlässliche Interpretationshilfe
Mit ausführlicher Inhaltsangabe, Informationen zur Textanalyse und Interpretation sowie Prüfungsaufgaben mit Musterlösungen.
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