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Bahnwärter Thiel

Kapitel 2

Zusammenfassung

Es ist Juni und Thiel kommt gerade von einer Nachtschicht nach Hause. Dort eröffnet ihm seine Frau, dass ihnen der Kartoffelacker, den sie brauchen, um zu existieren, gekündigt wurde. Die Familie droht, Not zu leiden, wenn nichts unternommen wird. Thiel ignoriert seine Frau, setzt sich zu Tobias ans Bett und betrachtet seinen Sohn voller Zärtlichkeit. Dabei fallen ihm Striemen im Gesicht des Jungen auf, die aussehen wie die Spuren einer Ohrfeige. Thiel schweigt auch dazu, doch sein Gesicht verfinstert sich.

Das Problem mit dem Kartoffelacker hat Thiel unterdessen längst gelöst, ohne dass er davon viel Aufhebens gemacht hätte. Auf die gute Nachricht hin stellt Lene ihr Schimpfen ein und läuft in die kleine Siedlung Schön-Schornstein, um vor den Nachbarn damit anzugeben. Thiel hingegen bleibt bei Tobias und spielt mit ihm ein Spiel, das Tradition zwischen Vater und Sohn hat. Thiel fragt Tobias, was er werden wolle, und dieser antwortet, er wolle Bahnmeister werden. Nach dem Spiel schickt Thiel Tobias nach draußen und legt sich hin, um sich von der Nachtschicht auszuruhen.

Auch wenn Thiel unter den Nachbarn Respekt genießt, hat er doch keine wirklichen Freunde. Seine sozialen Kontakte beschränken sich – was Erwachsene angeht – auf seine Frau, seinen Kollegen bei der Ablöse und gelegentliche Besuche des Försters in seiner Hütte. Dafür ist Thiel bei den Kindern der Siedlung äußerst beliebt. Er schnitzt und bastelt ihnen Spielzeug, zeigt ihnen auch manche Spiele, die er selbst als Kind gespielt hat. Aber er lernt auch mit ihnen, fragt sie Sachen ab, erklärt ihnen andere. Die Dorfbewohner missbilligen das zwar, dulden es aber, weil er sich um die Kinder kümmert.

Gegen Abend muss Thiel wieder zu seiner Schicht, erledigt zuvor noch ein paar kleinere Angelegenheiten und begibt sich schließlich mithilfe seines kleinen Bootes über die Spree, an deren gegenüberliegendem Ufer der Kiefernforst liegt, durch den die Bahnstrecke verläuft. Der tiefe, einsame Wald hat etwas Mystisches.

Plötzlich überkommt Thiel das Gefühl, er habe etwas vergessen, und es stellt sich heraus, dass er tatsächlich sein Butterbrot zu Hause gelassen hat und damit die einzige Nahrung, die er üblicherweise während der zwölfstündigen Schicht zu sich nimmt. Er eilt zurück. Damit sein Kollege nicht allzu lange warten muss, beeilt er sich auf seinem Weg.

Fast bei seinem Wohnhaus angekommen, hört Thiel Lenes Stimme, die besonders schrill und aggressiv klingt. Sie beschimpft Tobias, dem sie in heftigen Worten vorwirft, sich nicht um den kleinen Säugling gekümmert zu haben. Sie erwartet von Tobias, dass er seinen kleinen Bruder füttert. Thiel hört ein Geräusch, das an Schläge erinnert. Gleichzeitig kann er ein Wimmern vernehmen, wobei nicht klar ist, ob dieses von Tobias oder dem hungrigen Säugling stammt. Diese Eindrücke nehmen Thiel heftig mit, er beginnt zu zittern, ballt unwillkürlich die Faust. Nachdem er das Gefühl niedergekämpft hat, geht er langsam auf die Tür zu. Da hört er Lene schreien, dass Tobias den Säugling geschlagen habe. Sie stößt wilde Drohungen aus, bevor aber etwas geschehen kann, tritt Thiel in das Haus und unterbricht durch sein Erscheinen die Szene. Augenscheinlich hatte Lene gerade ausgeholt, um Tobias zu schlagen, unterlässt es nun allerdings. Eine Tätigkeit aufzunehmen, gelingt ihr jedoch auch nicht, da sie zu aufgeregt ist.

Tobias hingegen ist emotional aufgelöst, und dieser Anblick ergreift wiederum Thiel, der aber auch diesen Affekt niederkämpfen kann, sich kontrolliert und ohne ein Wort zu sagen sein Butterbrot nimmt und wieder zur Arbeit geht.

Analyse

Das erste Kapitel ist dadurch gekennzeichnet, dass die eigentliche Handlung noch nicht in Gang geraten ist. Dies ändert sich erst im zweiten Kapitel, sodass dieses funktional als die steigende Handlung im Kontext der klassischen Dramentheorie verstanden werden kann.

Es findet sich das erste Anzeichen einer Misshandlung Tobias' durch die Stiefmutter: »Der Wärter half [Tobias] sogleich beim Anziehen der wenigen Kleidungsstücke, wobei plötzlich etwas wie ein Schatten durch seine Mienen lief, als er bemerkte, daß sich auf der rechten, ein wenig angeschwollenen Backe einige Fingerspuren weiß in rot abzeichneten« (42). An dieser Textstelle wird aber auch zum ersten Mal in der Novelle auf eine tiefliegende Gefahr in Thiel selbst hingewiesen. Der Schatten, der über Thiels Gesicht geht, ist das Anzeichen dafür, dass in ihm etwas Dunkles, Finsteres ruht, das durch seinen kontrollierten Lebenswandel und den reglementierten Tagesablauf nur mühsam unter Verschluss gehalten wird.

Außerdem wird in dieser und der folgenden Szene in wenigen Worten die Armut der Familie Thiel gezeigt. So ist Tobias mit nur »wenigen Kleidungsstücken« (42) ausgestattet und der Bahnmeister – Thiels Vorgesetzter – überlässt der Familie »ein Stück Land längs des Bahndammes in unmittelbarer Nähe des Wärterhäuschens umsonst« und zwar als Almosen (42). Dadurch, dass die Armut der Familie nur wie nebenbei geschildert wird, erreicht die Novelle zweierlei. Einerseits erscheint die Armut als absolute Normalität des Milieus, sie ist buchstäblich gar keiner vielen Worte wert. Andererseits erweist sich die Novelle dadurch als Text, der nicht bloße Sozialkritik leisten will, sondern auf etwas Tiefgründigeres abzielt. Hier zeigen sich indirekt die mystizistischen Tendenzen der Novelle – und weil es sich um eine personale Erzählsituation handelt, werden damit zugleich die mystizistischen Neigungen Thiels porträtiert. Denn ihm, der sich in Gedanken und Träumereien verliert, erscheint seine Armut als etwas Unwesentliches.

Im zweiten Kapitel tritt auch das letzte Mal das Urteil der Nachbarn auf (44). Dadurch, dass die restlichen 25 Seiten – der Großteil der Novelle – nicht mehr auf die stereotype Schilderung der Gedanken »der Leute« zurückgreift, wird die zunehmende Isolation Thiels angedeutet. Er verliert sich in seinem beginnenden Wahn.

Dieser wird auch symbolisiert in der Überfahrt über die Spree. Thiel ist Eigentümer eines kleinen Kahns (44), die Anklänge an Charon, den Fährmann aus der griechischen Mythologie, der die Gestorbenen in den Hades, die Unterwelt, bringt, sind dabei kein Zufall. Die ganze Novelle strotzt vor Dichotomien. Da sind die beiden Frauen, die für verschiedene stereotype Ausprägungen des Weiblichen stehen. Der Gegensatz Natur vs. Kultur zieht sich leitmotivisch durch das ganze Werk. Arbeit und Heim sind streng voneinander geschieden, genauso wie die beiden Ufer: an dem einen befindet sich die Siedlung, am anderen Ufer der Forst. Der Forst wiederum ist verknüpft mit Minna, der Arbeit und der Natur, während die Siedlung verknüpft ist mit Lene, dem Zuhause und der Kultur. All diese Dichotomien aber sind der einen, ganz großen Dichotomie untergeordnet: dem Gegensatz von Leben und Tod. Der Tod zieht sich leitmotivisch durch die Novelle. Bereits auf der ersten Seite wird Minnas Tod thematisiert. Wenige Seiten später (41) wird der Tod eines Hirschbocks geschildert. Das Finale der Novelle aber wird eingeläutet durch den Tod Tobias', den anschließenden Tod Lenes und des Säuglings und schließlich durch die geistige Umnachtung Thiels, die zwar kein Tod im physiologischen Sinne ist, aber durch den Tod des Subjekts durchaus analog zu werten ist.

Das zweite Kapitel weist ferner eine kunstvolle Komposition in dem Sinne auf, dass es mit dem gleichen Motivkomplex beginnt und aufhört. Zu Anfang bemerkt Thiel die Spuren auf Tobias' Wange, das Ende des Kapitels besteht darin, dass er Tobias' Misshandlung durch sein Eintreten unterbricht (47). Beide Male macht er sich allerdings schuldig, indem er nicht Partei für seinen Erstgeborenen ergreift. Genau dies wird sich als folgenschwer erweisen. Der schließlich manifeste Wahn verdankt sich auch seinem latenten Schuldgefühl.

Veröffentlicht am 6. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 6. April 2023.