Vorbemerkung: Die nachfolgende Inhaltsangabe enthält Zitate aus dem Originalwerk und entspricht damit nicht allen üblichen Anforderungen an eine Inhaltsangabe.
In der 1903 erstmals veröffentlichten Novelle »Tonio Kröger« schildert Thomas Mann die Entwicklung des gleichnamigen Protagonisten über einen Zeitraum von 16 Jahren: vom 14-jährigen sensiblen Schüler, der sich aufgrund seiner künstlerischen Veranlagung als ausgeschlossen erlebt, zum Literaten, der sich bewusst vom Menschlich-Gewöhnlichen abheben will, und schließlich zum Dichter, dem die Liebe zum Menschlichen als Grundlage seines Schaffens gilt.
1. Kapitel
Der 14-jährige Patriziersohn Tonio Kröger wartet an einem Winternachmittag in einer »engen Stadt« (Lübeck) vor dem Schulgebäude auf seinen Mitschüler Hans Hansen. Hansen hat die Verabredung mit Kröger, der mehr als Freundschaft für ihn empfindet, offensichtlich vergessen. Beide Jungen werden als gegensätzliche Charaktere gezeichnet. Im blonden, blauäugigen Hansen begegnet der Leser einem Menschen, der in »glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt« lebt (S. 12). Tonio dagegen befindet sich als dunkler, sensibler, weiblich gezeichneter Junge in »Widerstreit mit allem« (S. 11). Sein künstlerisches Talent ist ihm Zuflucht und Last, da es ihn zu einem Außenseiter macht. Seine Bemühungen, das innere Erleben mit dem Freund zu teilen, scheitern. Zwar willigt Hansen ein, mit Kröger zusammen Schillers »Don Carlos« zu lesen, doch ist sein Versprechen rasch vergessen. Kröger bleibt als Sonderling allein mit seiner chaotischen Empfindung von »Sehnsucht«, »schwermütigem Neid«, »ein klein wenig Verachtung« und »keuscher Seligkeit« (S. 17).
2. Kapitel
Zwei Jahre später: Der 16-jährige Tonio ist in Inge Holm verliebt, die er aus der Tanzstunde kennt. Sie gleicht vom Typ her Hansen, beachtet ihn kaum. Als Kröger bei einer Tanzveranstaltung ein peinlicher Fehler unterläuft, lacht sie ihn aus. Kröger steht »einsam, ausgeschlossen und ohne Hoffnung vor einer geschlossenen Jalousie«, aber »damals lebte sein Herz« (S. 23). Auf die Annäherungsversuche der ihm ähnlicheren ungeschickten Tänzerin Magdalena Vermehren geht er nicht ein.
3. Kapitel
Nachdem Großmutter und Vater verstorben und Haus sowie Familienunternehmen veräußert sind, zieht es den erwachsenen Schriftsteller Tonio Kröger nach Süddeutschland. Der Kälte des Geistes, der Einsamkeit des Künstlers setzt er ausschweifende Abenteuer entgegen. Doch »Wollust und heiße Schuld« (S. 26) verstärken nur den Grundkonflikt seiner Existenz. Dem »niedrigen Dasein« (S. 25) begegnet er mit Hochmut, der Sehnsucht nach Leben stellt er die Abtötung des eigenen Begehrens gegenüber. Der Künstler, lässt er verlauten, müsse »gestorben sein«, »um ganz ein Schaffender« zu werden (S. 27).
4. Kapitel
In ihrem Münchner Atelier legt Kröger der befreundeten Malerin Lisaweta Iwanowna seine Ansichten über die Kunst und das Leben dar. Gleichzeitig bekennt er seine Sehnsucht nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« (S. 38). Lisaweta brüskiert ihn durch die Feststellung, er sei kein Künstler, sondern ein »Bürger auf Irrwegen« (S. 41).
5. Kapitel
Der nun dreißigjährige Tonio kündigt Lisaweta an, dass er nach Dänemark reisen und einen Abstecher in seine Heimatstadt unternehmen werde (S. 41).
6. Kapitel
In seiner Heimatstadt wird Kröger bei einem Stadtrundgang von Erinnerungen eingeholt. Sein Elternhaus ist verkauft, sein ehemaliges Kinderzimmer Teil einer Volksbibliothek, der alte Garten verwüstet – das Ungewisse seiner Identität spiegelt sich in der handlungsreichsten Episode der Erzählung: Im Hotel wird er mit einem Trickbetrüger verwechselt. Er gibt sich nicht als Sohn des ehemaligen Konsuls Kröger zu erkennen, kann sich aber auch nicht ausweisen. Ihn rettet schließlich der Korrekturabzug einer Novelle, der vom Hotelier als Nachweis seiner Identität akzeptiert wird.
7. Kapitel
Kröger fährt mit dem Schiff nach Kopenhagen, lernt einen jungen Kaufmann kennen. Der nächtliche Tanz des Meeres bringt die Erinnerung an die im zweiten Kapitel beschriebene Tanzveranstaltung zurück und damit auch an ein verloren geglaubtes Gefühl: »Sein Herz lebte« (S. 57). Nach einigen Tagen Aufenthalt in Kopenhagen reist Kröger weiter zu einem kleinen Badeort (Aalsgaard).
8. Kapitel
In Krögers Hotel findet ein Tanzabend statt. In einem der Paare meint er Inge Holm und Hans Hansen zu erkennen. Ein »blasses Mädchen« erinnert ihn an Magdalena Vermehren, der Tanzmeister an seinen früheren Tanzlehrer Knaack. Wie damals steht er zunächst außerhalb. Doch dann erfolgt die entscheidende Wendung: Kröger verlässt seinen Beobachterposten und nimmt an dem Fest teil. Fasst das gestürzte Mädchen, das ihn an Magdalena erinnert, mitfühlend »sacht an den Armen« (S. 70). Diese Geste leitet seinen inneren Wandel ein. Erneut heißt es: »Sein Herz lebte« (S. 71).
9. Kapitel
Das letzte Kapitel gibt einen Brief Krögers an Lisaweta wieder. Vom Literaten zum Dichter wolle er sich entwickeln, teilt Tonio darin mit. Was bedeutet, dass er die »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« nicht länger aus seinem Leben ausschließen wird. An Krögers Wahrnehmung der Welt hat sich nichts geändert. Doch die Liebe zum Menschlichen ist ihm nicht länger der Gegner, sondern der Freund dichterischen Schaffens.
Mit der Novelle »Tonio Kröger« hat Thomas Mann die Grundthemen seines künstlerischen Reifeprozesses aufgegriffen: das Gefühl, ein Außenseiter zu sein; die Suche nach einer Identität jenseits von Stereotypen und Klischees; seinen Kampf mit der Kälte der Kunst, der die vermeintliche Wärme eines sehnsüchtig vermissten wirklichen Lebens gegenübersteht. Schon zu Lebzeiten Manns wurde »Tonio Kröger« von Rezipienten als Meisterwerk gelobt. Noch heute werden sich viele junge Künstler mit dem Klassiker identifizieren und die Antithetik von Kunst und Leben als zentrales Thema bestätigen können.
Zitate entstammen der folgenden Ausgabe:
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2010.