Robert Seethalers 2014 erschienener Roman »Ein ganzes Leben« schildert in weitgehend chronologischer Abfolge die Lebensgeschichte des Bergbewohners und Gelegenheitsarbeiters Andreas Egger. Sie beginnt um das Jahr 1900 und endet in den 1970er-Jahren. Orte der Handlung sind Eggers (fiktives und geografisch nicht genau zu bestimmendes) Heimatdorf in den Bergen und die Krim. Die Existenz des Einzelgängers ist von harter Arbeit, Schmerz und Entbehrung bestimmt. Dennoch erlebt er sein Dasein als erfüllt und stirbt in Frieden mit seinen Erfahrungen.
Das Verschwinden des Hörnerhannes
Im Februar 1933 findet Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, genannt »Hörnerhannes«, in dessen Hütte. Er bindet ihn auf eine Kraxe und will ihn auf dem Rücken ins Tal tragen. Der Weg führt durch dichtes Schneegestöber. Egger befürchtet, den schwachen Kalischka nicht mehr lebend ins Dorf zu bringen. Unterwegs jedoch regen sich noch einmal die Lebensgeister des Todkranken. Er springt von der Kraxe und läuft durch den Schnee davon. Egger versucht vergeblich, ihn einzuholen. Schließlich geht er allein weiter ins Dorf und wärmt sich im Gasthof zum Goldenen Gamser auf. Hier begegnet er zum ersten Mal der Kellnerin Marie, seiner späteren Frau. Egger erzählt niemandem von seinem Erlebnis mit dem Ziegenhirten, der in den folgenden Jahren als spurlos verschwunden gilt. Das Bild des davonlaufenden Mannes begleitet ihn aber sein Leben lang.
Beginn des Seilbahnbaus
Im Mai 1933 beginnt in Eggers abgelegenem Heimattal der Bau einer Seilbahn. Die Firma Bittermann & Söhne zieht mit einem Bautrupp von rund 300 Personen ins Dorf ein. Der Seilbahnbau führt auch zur Elektrifizierung des Tales und wird von den Bewohnern begeistert begrüßt.
Rückblende: Eggers Kindheit
1902 wird der etwa vierjährige Andreas Egger aus der Stadt in ein abgelegenes Bergdorf gebracht. Seine Mutter hat vor ihrem Tod veranlasst, dass er bei der Familie ihres Schwagers Hubert Kranzstocker unterkommt. Weil Andreas ihr letztes Geld bei sich trägt, nimmt Kranzstocker ihn widerwillig auf. Sein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt. Um eine Geburtsurkunde ausstellen zu können, setzt der Bürgermeister es willkürlich auf den 15. August 1898 fest.
Seine ganze Kindheit hindurch muss Andreas hart für Kranzstocker arbeiten. Er wird nicht als Familienmitglied betrachtet, sondern muss sich immer wieder gegenüber den leiblichen Söhnen des Großbauern behaupten. Einzig die Mutter der Bäuerin, die »Ahnl«, schenkt ihm Zuneigung. Ihr Tod trifft ihn tief. Für kleinste Verfehlungen wird Andreas schwer misshandelt. Regelmäßig prügelt ihn Kranzstocker. Eines Tages schlägt er dabei so stark zu, dass Andreas‘ rechtes Bein bricht. Es wächst nicht wieder vollständig zusammen. Andreas hinkt von nun an.
1910 wird eine Dorfschule errichtet, in der Andreas Lesen und Schreiben lernt. Obwohl er sein Bein nachzieht, gewinnt er ab dem 13. Lebensjahr zunehmend an körperlicher Kraft. Als er 18 ist, widersetzt er sich den Schlägen des Onkels. Kranzstocker wirft ihn daraufhin aus seinem Haus.
Neues Leben als Tagelöhner
Andreas Egger ist nun frei und verdient eigenes Geld. Da er trotz seiner Behinderung sehr stark ist, findet er leicht Arbeit im Wald und auf den Feldern. Mit 29 Jahren erwirbt er oberhalb des Dorfes die Pacht für ein kleines, steiniges Grundstück mit einem Heuschober. Er richtet den heruntergekommenen Schober wohnlich her und baut auf seinem Stück Land Gemüse an. So will er den Grundstock für eine gemeinsame Zukunft mit Marie legen. Die Aushilfskellnerin ist ebenso anspruchslos wie er selbst. Sie arbeitet hart im Goldenen Gamser. An den Sonntagen lernt er sie bei gemeinsamen Spaziergängen besser kennen. Er ist in sie verliebt, weiß aber nicht, wie er ihr einen Heiratsantrag machen soll.
Spektakulärer Antrag
Egger nimmt eine feste Stelle bei der Firma Bittermann & Söhne im Seilbahnbau an. Hier lernt er seinen Freund und Mentor Thomas Mattl kennen. Der ältere, erfahrene Waldarbeiter hilft ihm, Marie einen außergewöhnlichen Antrag zu machen. Von Eggers Grundstück aus kann man auf einen gegenüberliegenden Höhenzug sehen. Dort lässt Mattl eines Abends eine Gruppe Männer, die er dafür bezahlt, petroleumgetränkte Leinensäcke in Brand setzen. Die Säcke sind so angeordnet, dass sie aus der Ferne den Schriftzug »FÜR DICH, MARIE« ergeben. Zur selben Zeit sitzt Egger mit Marie auf seinem Grundstück. Mit Blick auf die flammenden Buchstaben fragt er sie, ob sie seine Frau werden möchte. Marie nimmt den Antrag an.
Auf dem Höhepunkt des Lebens
Für Egger beginnt nun die glücklichste Zeit seines Lebens. Er ist inzwischen 33 Jahre alt, arbeitet am bedeutenden Projekt der Talerschließung mit und erhält eine Lohnerhöhung. In den Nächten ist er nicht mehr allein. Er lebt mit Marie zusammen und ist entschlossen, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. Während seines ersten Jahres bei Bittermann & Söhne muss er aber auch erleben, wie einer der Waldarbeiter einen Arm verliert. Sein Freund Thomas Mattl stirbt an einer schweren Verkühlung. Unterdessen schreitet der Seilbahnbau zügig voran und verändert das Tal und die Lebensbedingungen seiner Bewohner dauerhaft.
Die Lawine
Ende März 1935 hört Egger in der Nacht ein merkwürdiges Geräusch und geht vor sein Haus. Nur einen Moment später wird er von einer dunklen Welle davongerissen und verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, steckt er im Schnee und kann seine Beine nicht bewegen. Er schaufelt sich mit den Armen frei und zieht seinen Körper zu seinem Grundstück. Sein zerstörtes Haus ist unter Schneemassen begraben. Verzweifelt gräbt Egger mit den Händen nach Marie, bis er zusammenbricht. Ein Hilfstrupp findet ihn und bringt ihn ins Dorf. Maries Leiche kann erst nach der Schneeschmelze geborgen werden. Sie wird auf dem Gemeindefriedhof beigesetzt.
Die Zerstörungen durch die Lawine sind verheerend. Die meisten Dorfbewohner haben zwar überlebt, aber ihr Vieh und ihre Häuser verloren. Egger erhält ein Krankenlager im Gasthof. Es dauert fast ein halbes Jahr, bis seine gebrochenen Beine geheilt sind. Für die schwere Holzarbeit ist er nun untauglich. Für die Wartung der Seilbahnen aber stellt die Firma Bittermann & Söhne ihn erneut ein. Er zieht durch die Täler und kontrolliert die Sicherheit der bereits fertiggestellten Gondeln und Seilzüge.
Krieg und Kriegsgefangenschaft
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges meldet sich Egger als Freiwilliger, wird jedoch ausgemustert. Vier Jahre später gilt er als kriegstauglich und wird einberufen. Er wird an die Ostfront geschickt und verbringt insgesamt acht Jahre seines Lebens in Russland, davon knapp zwei Monate im Kriegseinsatz und die restliche Zeit in einem Gefangenenlager. Im Kaukasus wird er in 4.000 Metern Höhe allein auf einen Außenposten gesetzt. Einmal steht er Auge in Auge einem russischen Soldaten gegenüber. Ohne dass es zum Schusswechsel kommt, verschwindet der Feind wieder. Als Egger nicht mehr mit Proviant versorgt wird, verlässt er den Posten. Er gerät in die Hände sowjetischer Soldaten und wird in ein Gefangenenlager bei Woroschilowgrad (heute Luhansk) gebracht. Hier schreibt er eines Nachts einen Brief an Marie und vergräbt ihn. Viele seiner Mitgefangenen sterben. Egger überlebt die Jahre bis zur Befreiung im Sommer 1951.
Wieder im Dorf
Zurück in seinem Heimatdorf, erhält Egger von der Gemeinde eine Unterkunft hinter dem Schulhaus. Der Tourismus hält Einzug im Ort. Der Gasthof zum Goldenen Gamser bekommt Konkurrenz, und viele Bauern vermieten Fremdenzimmer. Egger begegnet dem alten und vom Leben gezeichneten Kranzstocker wieder. Sein einstiger Peiniger hat zwei Söhne im Krieg verloren. Er sehnt sich nach dem Tod. Tatsächlich stirbt er erst Ende der 1960er-Jahre.
Das Fernsehen ist eine neue Attraktion für die Dorfbewohner. Im Goldenen Gamser sieht Egger eines Abends Grace Kelly auf dem Bildschirm. Das Bild der schönen Frau aus einer Welt weit jenseits des Dorfes lässt ihn aufgewühlt zurück. Die Mondlandung 1969 ist ein weiteres eindrucksvolles TV-Erlebnis für Egger, der sich selbst zeit seines Lebens kein Fernsehgerät anschafft.
Egger als Fremdenführer
Nach seiner Rückkehr lebt Egger vom staatlichen Entlassungsgeld für Kriegsheimkehrer und erneuten Gelegenheitsarbeiten. Bei einer Wanderung trifft er ein Urlauberpaar, das sich verlaufen hat. Er begleitet die beiden zurück ins Dorf. Ihre überschwängliche Dankbarkeit bringt ihn auf die Idee, fortan als Bergführer zu arbeiten. Schnell verdient er gutes Geld mit der neuen Tätigkeit. Noch einmal erlebt er eine zufriedene Zeit. Das Wesen seiner teils leichtsinnigen Gäste und ihr übertriebener Bergenthusiasmus bleiben ihm aber fremd.
Anna Holler
Anfang der 1970er-Jahre wird die pensionierte Lehrerin Anna Holler als Aushilfe an die Dorfschule geholt. Anna stammt aus dem Nachbarort. Die resolute Frau setzt alles daran, Egger näherzukommen. Sie plant Ausflüge mit ihm, versorgt ihn mit Essen und drängt sich in sein Leben. Nach einem gemeinsam verbrachten Tag fordert sie ihn auf, mit ihr zu schlafen. Egger ist dazu nicht in der Lage. Kurz darauf reist die enttäuschte Anna ab. Für Egger bleibt die Begegnung mit ihr der letzte engere Kontakt mit einer Frau.
Rückkehr des Hörnerhannes
Wenige Wochen nach Annas Weggang sieht Egger zwei Männer, die eine Trage mit einer zerfetzten Leiche durch das Dorf tragen. Erschüttert erkennt er den Körper des Hörnerhannes. Skiwanderer haben den Toten oberhalb der Pisten in einer Gletscherspalte gefunden – weit entfernt von dem Ort, an dem er vor Jahrzehnten von der Kraxe gesprungen war. Egger rätselt, wie er dorthin gelangt und was in der Zwischenzeit passiert sei. Er findet keine Antwort. Außer ihm kennt niemand mehr im Ort den Toten. Am nächsten Tag wird der Hörnerhannes begraben.
Einsiedlerleben im Alter
Mit über siebzig Jahren hört Egger mit den Bergführungen auf und zieht aus dem Schulgebäude aus. Oberhalb des Dorfes richtet er sich in einem ehemaligen Viehstall ein, der wie eine Höhle in den Hang hineingearbeitet ist. Hier führt er ein einfaches Leben. Er geht nur noch selten ins Dorf, um Lebensmittel zu kaufen. Die Leute betrachten ihn als seltsamen Kauz. Egger ist zufrieden mit seinem Dasein als Sonderling. Er fühlt sich in der Einsamkeit wohl.
Der Tod
Einmal verlässt Egger seine Höhle kurz vor der Morgendämmerung. Im Nebel sieht er am Hang die Gestalt einer weißen Frau. Er kann ihr Gesicht nicht erkennen, spricht sie aber als Marie an und bittet sie, ihn anzusehen. Sie dreht sich nicht um. Es bleibt offen, wem Egger mit der Gestalt der »Kalten Frau« begegnet ist.
Mit 79 Jahren stirbt Egger in einer Februarnacht am Tisch seiner Behausung. Drei Tage später findet ihn der Briefträger. Egger wird auf dem Gemeindefriedhof neben seiner Frau Marie begraben.
Rückblende: Eggers letzter Ausflug
Knapp sechs Monate vor seinem Tod erwacht Egger voll innerer Unruhe. Es zieht ihn ins Dorf, wo er in einen Bus steigt und bis zur Endstation fährt. Auf der Fahrt kommt er durch Gegenden, die er nie zuvor gesehen hat. In einer ihm fremden Umgebung steigt er aus. Er weiß nicht, was er hier soll, und ist froh, als er die Rückfahrt antreten kann. Der Fahrer kümmert sich um ihn. Als es bei seiner Heimkehr zu schneien beginnt, erinnert er sich an den einstigen Weg durch das Schneegestöber mit dem Hörnerhannes und sagt: »Es ist noch nicht so weit«.
Seethalers Roman stand lange auf der Spiegel-Bestsellerliste. Er ist bis heute ein großer Publikumserfolg. Die Kritik nahm das Buch sehr unterschiedlich auf. So bezeichnete Thomas E. Schmidt es in der Zeit als „überaus poetisches Buch“, während Hannelore Schlaffer es in der NZZ einen „Roman für Sadisten“ nannte. Stefan Diezmann wählt in seiner Rezension auf poesierausch.com den Vergleich mit der alttestamentarischen Hiob-Geschichte und fasst damit in gewissem Sinne beide Sichtweisen zusammen.
Dem Buch wird gelegentlich vorgeworfen, auf bloße Wirkung hin geschrieben und daher kitschig zu sein. Das Werk ist zu jung, um eine abschließende literaturgeschichtliche Einordnung vorzunehmen – nur die Zukunft kann zeigen, ob es eine Wirkungsgeschichte über den Tag hinaus haben und auch in 50 oder 100 Jahren noch Leser*innen ansprechen wird.