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Warten auf Godot

Figuren

Figurenkonstellation

Warten auf Godot – Figurenkonstellation
  • Estragon

    Es ist gar nicht so leicht, zwischen Estragon und Wladimir stets trennscharf zu unterscheiden. Dazu kommt die Schwierigkeit, den Aussagen der Protagonisten einen bestimmten Wahrheitsgehalt zuzuschreiben. So stellt sich etwa die Frage, ob Estragon wirklich einmal – wie er behauptet – ein Dichter gewesen ist, oder ob die Aussage nur ironisch auf sein ärmliches Äußeres Bezug nimmt.

    Auf jeden Fall erscheint Estragon als derjenige der beiden Protagonisten, der sich in einem schlechteren Zustand befindet. Seine Füße sind zu geschwollen, um aus den Stiefeln zu können. Er wird jede Nacht von Unbekannten verprügelt. Pozzo bezeichnet ihn als den Stinkenderen von beiden. In der Zusammenstellung Estragon und Wladimir erscheint Estragon auch als derjenige, der heftiger von seinen Instinkten getrieben wird. Er ist es auch, der immer wieder das Thema Trennung ins Spiel bringt.

    Auch die Reaktion auf den Jungen ist seinerseits heftiger, wenngleich Wladimir in der entsprechenden Szene des zweiten Aktes mindestens ebenso heftig agiert wie Estragon im Akt zuvor. Auch erscheint Estragon als der dümmere der beiden, wenngleich dies auch mit der Autorität Wladimirs zu tun haben kann, neben der Estragon in schlechterem Lichte erscheint.

    Dass die beiden sich sehr ähnlich sind, wird besonders in der Szene deutlich, in der sie beratschlagen, ob sie dem gestürzten und erblindeten Pozzo helfen sollen. Dabei fungiert Estragon als Ideengeber, denn der Gedanke, Pozzo nur gegen finanzielle Gegenleistungen zu helfen, stammt von ihm. Aber es ist Wladimir, der den Gedanken rationalisiert und ausspricht. Ihre Absichten sind also identisch, auch wenn es zwischen ihnen ein kognitives oder wenigstens rhetorisches Gefälle zu konstatieren gibt.

    Gleichzeitig ergreift Estragon häufig die Initiative. Etwa in der Szene, in der sie Lucky inspizieren. Dennoch erscheint er als der Unbefangenere von beiden. Denn es ist Wladimir (der von Estragon auch »Didi« genannt wird), der angesichts von Luckys Behandlung durch Pozzo in Entsetzen ausbricht. Estragon hingegen ist mehr an unverfänglicher Unterhaltung interessiert. Dies zeigt sich etwa in der Szene, in der Pozzo ihnen die Möglichkeit gibt, Lucky entweder beim Tanzen oder beim Denken zuzuschauen. Estragon sagt: »Mir wär’s lieber, wenn er tanzte, das wär lustiger?« (103). Und er wiederholt sogar: »Nicht wahr Didi, das wär doch lustiger?« (ebd.). Freilich mangelt es ihm an Autorität, sodass er seine Vorschläge als Fragen formuliert.

  • Wladimir

    Wladimir und Estragon sind spiegelbildlich zueinander konzipiert. Damit einher geht eine gewisse Beliebigkeit der Äußerungen ihrer Temperamente. Oftmals erscheint es so, als würden sie einander nur um des Widersprechens willen widersprechen. Dennoch gibt es bestimmte Züge, die sich identifizieren lassen.

    Die beiden Landstreicher tragen selbstredend deutlich ausgeprägt clowneske Züge. Das wird allein schon durch ihre Aufmachung sichtbar, schließlich tragen beide steife Melonen, sodass sie rein äußerlich bereits an Charlie Chaplin erinnern. Gerade das Hutwechselspiel ist nach dem Vorbild des Slapsticks. Natürlich sind auch Assoziationen an Laurel und Hardy evident. Wie diese beiden sind Estragon und Wladimir traurige Clowns, die zwar darüber nachdenken, sich zu trennen, diesen Gedanken aber stets verwerfen (Postic 2020: 55).

    Das Paar rekurriert aber auch auf traditionelle Formen der Clown-Comedy. Durch sein autoritäres Gebaren erinnert Wladimir an den sogenannten Weißclown. Der Weißclown ist in der Regel in Begleitung mindestens eines dummen Augusts und spielt sich als dessen oder deren Anführer auf. In dieser Paarung wäre Estragon der dumme August – eine Zuschreibung, die durchaus treffend erscheint. Es ist Estragon, der die Prügel bezieht, nicht Wladimir, der dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen vermag.

    Hinzu kommt, dass Wladimir als der düstere von beiden erscheint – doch dies hängt natürlich auch mit der Spiegelbildfunktion zusammen, die die beiden füreinander spielen. Dennoch: der intellektuelle Input stammt von Wladimir. So ist er es, der das Gespräch auf die Erzählung im Lukasevangelium bringt, in der einer der Diebe erlöst werden soll.

    Die Vorrangstellung Wladimirs wird vor allem an seiner Position deutlich, die er in dem leitmotivischen Wortwechsel einnimmt: »Estragon: Komm wir gehen! / Wladimir: Wir können nicht. / Estragon: Warum nicht? / Wladimir: Wir warten auf Godot. / Estragon: Ach ja.« (39, 125, 169, 175, 193, 207 f.). Dieser Wortwechsel kommt in der Form sechsmal vor, wobei sich die Schlagzahl gegen Ende deutlich erhöht.

    In leichter Abwandlung findet sich die Aussage »Wir warten auf Godot« drei Mal (151, 157, 229), doch jedes Mal wird sie von Wladimir getätigt. Das zeugt von seiner Stellung. Er verpflichtet die beiden darauf, Godot zu erwarten. Tatsächlich ist es ja auch Estragon, der das Thema Trennung aufbringt, was Wladimir dazu veranlasst, das Anliegen abzuschmettern. Wladimir ist also die treibende Kraft – oder eher: die verharrende Kraft.

    Ferner stammt von Wladimir der Hinweis auf das Alter der beiden. Um 1900 seien sie jung gewesen. Pozzo schätzt sie auf 60 oder 70 Jahre. Das zugeschriebene Alter ist also durchaus zutreffend.

  • Pozzo

    Pozzo ist ein unduldsamer, grausamer Herrscher, der seinen Diener Lucky an einer Schlinge herumführt. Zusätzlich setzt er die Peitsche ein, um ihn gefügig zu machen. Zunächst erscheint die Beziehung zwischen Pozzo und Lucky recht stereotyp: Pozzo ist der Mächtige, Lucky der Ausgelieferte. Aber mit der Zeit erscheint es so, als wäre er auch an Lucky gekettet, als wäre er auch ihm ausgeliefert. Pozzo verweist darauf, dass es Lucky gewesen sei, der ihm überhaupt ein tieferes Verständnis der Welt nähergebracht habe. Wie es um dieses tiefere Verständnis letzten Endes bestellt ist, bleibt allerdings offen.

    Fest steht, dass Pozzo Lucky als einen Denk-Künstler beschäftigt und sich von ihm oftmals etwas vordenken lässt. Damit erweist sich die Beziehung zwischen Lucky und Pozzo durchaus als jene dialektische Beziehung zwischen Herr und Knecht, die der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschrieben hat. Gemäß Hegel ist der Knecht derjenige, der mit der Welt unmittelbar umgeht. Der Herr hingegen ist nur über den Knecht mit der Welt verbunden (Hegel 1988: 132-134). Dieses Verhältnis wird an den Figuren Pozzo und Lucky besonders deutlich, als Pozzo bereits erblindet ist und Lucky ihn durch die Welt führt. Brisant daran ist, dass Lucky stumm geworden ist. Auch dies passt zur Konzeption Hegels, denn der Knecht ist zwar derjenige, der mit der Welt umgeht, der Herr ist aber derjenige, der ihre Früchte genießt.

    Pozzo ist sich außerdem des Standesunterschieds gegenüber Estragon und Wladimir vollauf bewusst, ja er betont ihn sogar eigens. Dennoch spricht er ihnen die Menschlichkeit dezidiert zu. Wenigstens als Menschen würden die beiden ihm gleichen. Hier zeigt sich Pozzo als Mitglied einer Elite.

    Elitär ist auch, dass er Lucky auf einem Markt verkaufen will, weil dessen Denken ihn zunehmend deprimiere. Der elitäre Herr will seinen Knecht loswerden – vielleicht, weil dieser ihm ein schlechtes Gewissen macht. Passend dazu, dass er sich offensichtlich nicht von seinem Knecht trennen kann. Nur sein Knecht macht ihn schließlich zum Herren. Würde er Lucky wirklich verkaufen, büßte er so seinen Status ein. Seine Stellung ist eindeutig als bedroht zu verstehen.

  • Lucky

    Lucky ist eine durch und durch rätselhafte Figur. Wie er in die Abhängigkeit von Pozzo geraten ist, wird nicht weiter erklärt. Pozzos Schilderung ist selbst rätselhaft und daher kaum zu verwerten. Fest steht, dass Lucky Pozzos Diener ist, wobei die Beziehung eben nicht durch ein lineares Gefälle gekennzeichnet ist, sondern eher durch eine wechselseitige Abhängigkeit. Allerdings muss diese Abhängigkeit auf Seiten Luckys durchaus verwundern. Warum er – gerade als Pozzo erblindet ist – nicht die Gelegenheit ergreift und seinen Herren hinter sich lässt, bleibt rätselhaft.

    Zur Verwirrung trägt auch sein Name bei. Einerseits kann die Namensgebung als Ironie verstanden werden, denn wenn eine Person vom Glück (engl. luck) wenig bedacht wurde, so ist es Lucky. Dazu kommt, dass der Name Lucky kein typischer Name für einen Menschen ist. Meist heißen Hunde, Pferde, also Haustiere so. Dies wiederum ist angesichts der Situation, in der sich Lucky befindet, gar nicht ironisch. Im Gegenteil: Der Name Lucky zeigt deutlich, dass er sich in einer Situation befindet, die der Menschlichkeit vollkommen entbehrt. Dass Lucky einen Haustiernamen trägt, zeigt also nur seine Existenzform an, denn tatsächlich wird er wie ein Haustier gehalten. Besonders deutlich wird das in der Szene, in der er die Peitsche von Pozzo in den Mund nimmt. Diese Geste ist nicht anders als hündisch zu bezeichnen. In Kombination mit dem Namen Lucky und der Abwesenheit typisch menschlicher Verhaltensweisen kann gesagt werden, dass Lucky eher einem Hund als einem Menschen gleicht.

    Diese These wird unterstützt durch Luckys eigenartiges Sprachverhalten. Im zweiten Akt ist er bereits verstummt, dies erscheint unproblematisch und deckt sich mit der Auffassung, Lucky sei mehr Tier als Mensch. Doch im ersten Akt ist er durchaus noch in der Lage, sich zu artikulieren. Allerdings ist sein Monolog kein kommunikativer Akt. Er ist unverständlich und so sehr monologisch, dass er sich nicht in ein kommunikatives System – etwa ein Gespräch – einlassen kann. Zusätzlich ist sein Monolog von seinem Hut abhängig. In dem Moment, in dem Lucky seinen Hut verliert, verstummt er. Damit wird er zu einer Art Bauchrednerpuppe, deren sprachliche Äußerungen von außen eingegeben werden. Lucky ist in dieser Hinsicht, obwohl er spricht, nicht sprachbegabt. Der Informationsgehalt seines Monologs ist dem eines Papageien gleich.

  • Ein Junge

    Der Junge tritt jeweils gegen Ende des ersten und zweiten Aktes auf und verkündet, dass Herr Godot, wie er ihn nennt, nicht käme. Im ersten Akt wird der Junge daraufhin von Estragon unter Druck gesetzt, im zweiten Akt übernimmt Wladimir dies. Der Junge erweist sich stets als scheu und flieht letztendlich, nachdem er die Nachricht überbracht hat. Wie Pozzo und Lucky gibt der Junge vor, Estragon und Wladimir noch nie gesehen zu haben. Dadurch entsteht eine eigentümliche Fremdheit im ganzen Stück.

    Laut Selbstaussage hat der Junge einen Bruder, der von Herrn Godot misshandelt werde. Er selbst sei aber nicht Opfer von Schlägen. Dennoch ist der Junge durch eine Furchtsamkeit gekennzeichnet, die eventuell darauf schließen lässt, dass auch er selbst Opfer von Misshandlungen ist. Insgesamt erfahren die Zuschauer über den Jungen sehr wenig, auch weil seine Antworten je nach Kontext so anders ausfallen, dass es unmöglich ist zu entscheiden, was wahr und was falsch ist.

    Dabei scheint es von Bedeutung, dass es ausgerechnet ein Junge, also ein Minderjähriger ist, der von Herrn Godot beauftragt wurde. Die Welt, in der das Stück spielt, hat durchaus postapokalyptische Züge – wobei dieses Moment in den späteren Stücken Becketts noch sehr viel ausgeprägter ist. In so einem Setting erscheint das bloße Auftreten eines Kindes sodann als Hoffnungsschimmer. Allerdings ist der Junge so verängstigt, dass dieser grundsätzliche Eindruck vollkommen konterkariert wird.

    Das Auftreten des verängstigten Kindes vermehrt die Trostlosigkeit der Welt sogar noch. Verschlimmert wird dieser Eindruck durch das Verhalten Estragons und Wladimirs dem Jungen gegenüber. Selbst sie, die über weite Strecken ein ausgeprägt infantiles Verhalten zeigen, sind ihm gegenüber grausam. Das Kind hat seinen Charakter als Hoffnungsträger verloren.

  • Godot

    Es stellt sich die Frage, ob Godot überhaupt als regelrechte Figur wahrgenommen werden kann. Er hat jedenfalls keinen Auftritt, kein Schauspieler übernimmt seine Rolle. Von dieser Warte aus ist er keine Figur. Dennoch ist er zentraler Bezugspunkt des Verhaltens und Denkens von Estragon und Wladimir. In dieser Hinsicht ließe er sich als Figur auffassen, auch wenn streng genommen von einer Figur in Abwesenheit, einer gewissermaßen teichoskopischen Figur, gesprochen werden müsste.

    Welche Funktion Godot tatsächlich hat, ist sehr unklar. Weder Estragon noch Wladimir erinnern sich, worum sie ihn eigentlich gebeten haben. Auch die Antworten Godots – an die sich nur Wladimir zu erinnern scheint – sind durch ihre Beliebigkeit gekennzeichnet.

    Der Junge behauptet im ersten Akt, er würde für Godot die Ziegen hüten. Sein Bruder hingegen hüte die Schafe. Das hat durchaus Anklänge an Kain und Abel, sodass Godot vielleicht tatsächlich als Gott, der Hüter des Bruders von Abel, verstanden werden könnte. Allerdings bricht die Anspielung in sich zusammen, da beide Brüder Hirten sind, während in der Bibel nur Abel ein Hirte, Kain aber ein Bauer ist.

    Überhaupt erscheint die Interpretation, Godot sei eigentlich Gott, vielversprechend, gleichzeitig aber auch etwas eindimensional. Godot ist nicht Gott, was allerdings nicht bedeutet, dass der anthropomorphe Gott nicht Züge von Godot trägt. Godot ist als Leerstelle zentraler Bezugspunkt für Bedeutungszuweisungen. Ob er jenseits dessen überhaupt etwas ist, ist stark zu bezweifeln. Gerade die Tatsache, dass er keinen Inhalt hat, macht Godot aus.

Veröffentlicht am 25. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Juli 2023.