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Warten auf Godot

2. Akt

Zusammenfassung

Der 2. Akt spielt – laut Regieanweisung – am nächsten Tag. Es ist der gleiche Ort, die gleiche Uhrzeit, doch der Baum hat mittlerweile ein paar Blätter bekommen. Wladimir tritt beschwingt auf und singt das Lied »Ein Hund kam in die Küche«, wobei er jedoch Probleme hat, sich an den Text zu erinnern.

Estragon tritt auf, was von Wladimir nicht mit derselben Begeisterung wie am Vortag quittiert wird. Umarmen will er ihn aber schon, was Estragon allerdings wieder – genau wie am Vortrag – brüsk ablehnt. Daraufhin verliert Wladimir seine gute Laune. Augenscheinlich wurde Estragon nachts wieder verprügelt, er will dazu aber nichts sagen. Statt zu sprechen, mustern sie sich eindringlich – als seien sie Kunstwerke, wie die Regieanweisung lautet (vgl. 147). Aus dieser Musterung wird schließlich eine heftige Umarmung, woraufhin Estragon erklärt, weshalb er so wütend gewesen sei. Wladimir betont nochmals seine gute Verfassung, wird aber zunehmend pessimistisch, bis er schließlich seine gute Laune und Verfassung eingebüßt hat.

Estragon schildert, dass ihn zehn Leute angegriffen hätten. Daraufhin versuchen die beiden Männer, sich per Autosuggestion davon zu überzeugen, zufrieden zu sein. Die Konsequenz der Zufriedenheit bringt aber nichts Neues: Sie warten immer noch auf Godot, wie Wladimir verkündet. Das Gespräch kommt auf den Vortag, an den sich nur Wladimir erinnern zu können scheint.

Weitere Erinnerungen werden thematisiert, Estragon und Wladimir seien, so der Letztere, gemeinsam durch den Breisgau gewandert. Wieder empfiehlt Estragon, getrennte Wege zu gehen. Zusätzlich hebt er hervor, dass es am besten wäre, sich umzubringen und den anderen gleich mit. Auf die Nachfrage, welchen anderen er meine, kommt Estragon plötzlich auf Millionen Tote zu sprechen. In der Folge sprechen die beiden über diese Toten, doch auch dieses Gespräch endet mit dem Ausspruch: »Wir warten auf Godot« (157).

Um die Zeit herumzubringen, spielen sie Sprachspiele. So stellen sie sich Fragen oder beschimpfen sich. Doch diese Spiele lenken nicht wirklich ab, denn das Gespräch kommt immer wieder auf die ominösen Toten zu sprechen, wobei gleichzeitig auch über die Lage des Menschen an sich gesprochen wird. Die Geschichte hin bis zur Moderne wird als kleiner Galopp beschrieben.

Das Gespräch kommt, weil die beiden ganz am Anfang beginnen möchten, wieder auf den Schauplatz zu sprechen. Der Baum fällt auf, vor allem, dass er nun Blätter hat. Estragon aber ist sich sicher, noch nie an dieser Stelle gewesen zu sein. Seine Erinnerung ist der Wladimirs entgegengesetzt. Selbst Beweise – etwa Estragons Schuhe, die dieser am Vortag hatte stehen lassen und die Wladimir nun vorzeigt – werden von Estragon einfach abgeschmettert. Er lässt sich nicht überzeugen. Das Gespräch über die Schuhe ermüdet ihn, er will gehen. Doch Wladimir überzeugt ihn wieder, dass dies nicht möglich sei, schließlich warteten sie ja auf Godot.
Die Szene mit den Rüben aus Akt 1 wird nochmals durchgespielt, nur diesmal stattdessen mit Radieschen. Schließlich versuchen die beiden, Estragon die Schuhe anzuziehen, während sie am Vortag noch versucht haben, sie ihm auszuziehen, womit sie schließlich erfolgreich sind. Estragon ist müde und versucht zu schlafen. Wladimir singt ihm sogar ein Schlaflied, doch bald schon erwacht Estragon aus Alpträumen. Auch jetzt kümmert sich Wladimir zärtlich um ihn.

Luckys Hut liegt noch an derselben Stelle vom Vorabend. Wladimir hebt ihn auf, beult ihn aus und will ihn aufsetzen. Beide tragen aber bereits Hüte, sodass sich daraus ein slapstickartiges Hutwechselspiel ergibt. Im Anschluss spielen die beiden, sie seien Pozzo und Lucky. Estragon allerdings verlässt die Szene, kommt aber unmittelbar zurück und warnt, es kämen Leute auf sie zu. Auch die Fluchtversuche sind komisch gehalten – außerdem wird das Publikum mit einbezogen – wenngleich es nicht wirklich aktiviert, nicht wirklich angesprochen wird. Allerdings geschieht nichts.

Die beiden beruhigen sich, wollen das Gespräch wieder aufnehmen, doch sie unterbrechen sich gegenseitig. Nun wollen sie dem jeweils anderen den Vorrang geben, wobei diese Förmlichkeit sie allerdings gleichzeitig so sehr erbittert, dass sie einander zu beschimpfen beginnen, wobei die Beschimpfung jedoch unvermittelt als Spiel aufgefasst wird, die Zeit zu vertreiben.

Im Anschluss machen sie körperliche Übungen, um die Zeit verstreichen zu lassen. Inmitten ihrer Gymnastikübungen aber schreit Estragon, dass Gott sich seiner erbarmen solle. Der Ausbruch kommt ohne jeden Zusammenhang und wird genauso plötzlich durch das Auftreten von Pozzo und Lucky unterbrochen. Offensichtlich ist Pozzo inzwischen erblindet. Wie im ersten Akt stellt Estragon erneut die Frage, ob das Godot sei, was Wladimir mit dem metafiktionalen Kommentar goutiert, nun sei das Ende des Programms gesichert. Währenddessen sind Pozzo und Lucky gestürzt und kommen nicht auf die Füße.

Weil Pozzo auf dem Boden liegt, beratschlagen Wladimir und Estragon, was sie mit ihm machen sollten. Estragon erweist sich dabei als wenig moralisch, wenngleich Wladimir ihn in dieser Hinsicht noch deutlich übertrifft. Schließlich entscheiden sie sich aber doch, zu helfen, wobei sie allerdings selbst hinfallen. Nun liegen alle vier am Boden. Pozzo versucht zu fliehen und wird von Wladimir gestoßen. Schließlich gelingt es ihm zu fliehen. Doch er fällt wieder hin, woraufhin ihn Wladimir und Estragon aufheben und stützen müssen – wie sie es bereits im Akt zuvor mit Lucky getan haben.

Pozzo und die beiden sprechen wieder miteinander. Dabei fällt auf, dass ihre Meinungen selbst darüber, wie spät es ist, absolut unvereinbar miteinander sind. Auch die Frage, wo sie eigentlich sind, ist keinem der Beteiligten klar. Die beiden erzählen Pozzo, dass Lucky noch auf dem Boden liege. Estragon wird auserkoren, ihn aufzuheben und nimmt sich vor, sich bei dieser Gelegenheit für den Tritt vors Schienbein zu rächen. Genau dies tut er zwar auch, allerdings verletzt er sich dabei am Fuß, sodass wieder nur er derjenige mit Schmerzen ist.

Als Lucky wieder steht wird klar, dass er stumm geworden ist. Daran schließt sich die Frage an, wie viel Zeit eigentlich vergangen sei, was niemand beantworten kann. Pozzo brüllt aus, man solle ihn mit der Zeit in Ruhe lassen und macht sich mit Lucky auf den Weg.

Estragon und Wladimir sind wieder allein. Ihr Gespräch dreht sich um Pozzo und Lucky und ob es wirklich stimmen könne, dass ersterer inzwischen erblindet, letzterer verstummt sei. Wladimir schließlich zweifelt an seinem Verstand und steigert sich in eine nervöse Wut hinein, die aber schließlich von dem erneut auftretenden Jungen unterbrochen wird. Auch dieser erinnert sich nicht an die beiden oder den vorangegangenen Tag. Die Nachricht ist indes unverändert, Herr Godot werde morgen kommen. Als der Junge vor Wladimir flieht, wird es plötzlich Nacht, woraufhin Estragon aufwacht.

Ihr Gespräch dreht sich erneut um Hoffnungslosigkeit und die Perspektive, sich aufzuhängen. Dabei bringt Estragon wieder hervor, sich doch lieber zu trennen, darauf geht Wladimir allerdings nicht ein. Er verweist stattdessen darauf, dass, falls Godot käme, sie gerettet seien. So beschließen die beiden, zu gehen. Doch wieder rührt sich keiner von ihnen von der Stelle. Der Vorhang fällt.

Analyse

Der zweite Akt beginnt im Prinzip wie der Erste. Es ist der gleiche Ort, die gleiche Zeit, das gleiche Personal. Dennoch ist im zweiten Akt auch einiges anders. So beginnt der Akt nicht mit einem Gespräch über die Bibel, sondern mit einem Gesang, den Wladimir anstimmt. Er singt das Kinderlied vom Hund, der in die Küche kam (vgl. 143 f.). Dieses Lied weist die Form eines Mise en abyme auf, das bedeutet, dass der Text sich stets wiederholt. Die Erzählung vom Hund in der Küche landet auf dem Grabstein des Hundes, auf dem wiederum die ganze Geschichte einschließlich des Textes auf dem Grabstein steht. Dieses Paradox zeigt auch die Zeitstruktur der Welt an, in der Estragon und Wladimir sich aufhalten. Alles wiederholt sich, es gibt niemals etwas Neues und dennoch ist niemand in der Lage, genau diesen Prozess einzusehen. Selbst Wladimir, der den Text singt, an den man sich – da er sich ja wiederholt – ohne weiteres erinnern könnte, ist nicht in der Lage, sich vollständig an den Text zu erinnern. Das Kinderlied fungiert hier als intertextueller Hinweis, es zeigt im Kleinen die Handlung im Ganzen auf.

Die Schwierigkeiten Wladimirs, sich an den Text zu erinnern, finden ihr Gegenstück in der Unfähigkeit aller Personen, ein Gespräch aufrechtzuerhalten. Kommunikation findet nicht statt, genauso wenig wie eine Handlung. Dies wiederum verstärkt den Eindruck, dass es sich bei dem ganzen Stück um ein symbolisches Stück handelt, bei dem die Bedeutung sich unter der Maske sinnlosen und fruchtlosen Verhaltens verbirgt.

Dieser symbolische Charakter des Stücks zeigt sich auch in der Szene, in der Estragon, Wladimir, Pozzo und Lucky am Boden liegen. Pozzo fragt die beiden, wer sie seien, woraufhin Wladimir antwortet: »Wir sind Menschen« (203). Darauf folgt Schweigen. Dass der Satz durch das Schweigen noch stärker hervorgehoben wird, erscheint fast als Einladung, an ihn eine weitreichende Interpretation zu knüpfen. Die Menschen liegen alle am Boden. Dies könnte ein Hinweis auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Holocaust, sein. Die Menschheit ist am Boden und kann sich aus eigener Kraft nicht mehr erheben. Wobei das Stück nur wenige Minuten später diesen Eindruck wieder verwirft, denn tatsächlich können die beiden aufstehen, sie, so sagen sie es selbst, müssten nur wollen (vgl. 207). Bleibt man bei der Interpretation, so ließe sich nun formulieren, dass es der Menschheit an aufrichtigem Willen mangele, sich aus dem Schmutz zu erheben. Gleichzeitig ist eine solche Interpretation am gesamten Stück kaum durchzuführen. Zu widersprüchlich sind die Aussagen, zu richtungslos die Handlung. Ob das Stück also wirklich ein hoffnungsvolles Moment aufweist, ist stark zu bezweifeln.

Dennoch macht das Stück durchaus Aussagen über die Menschheit. So etwa in der Szene, in der Estragon und Wladimir beratschlagen, ob sie Pozzo wirklich helfen wollen. Gerade das Abwägen, das untätige Nichtstun bei gleichzeitigem Gerede wird von Wladimir als typisch menschlich bezeichnet (vgl. 197). Und genau das ist es ja auch, was das Stück als Ganzes ausmacht: es wird zwar geredet – und zwar die ganze Zeit – aber gesagt wird nichts und noch viel weniger wird etwas getan. Nicht einmal der Selbstmord ist noch im Bereich möglichen Handelns, nur das untätige Warten auf Godot bleibt übrig. Dass es sich dabei auch um eine Art Handlung handelt, ist evident. Allerdings ist es eine fruchtlose – und im Stück immer auch konsequenzlose – Handlung.

Dies mag damit zusammenhängen, dass angesichts der Katastrophen der Menschheit ihr moralischer Kompass abhandengekommen ist. Angesichts der Millionen Toten stellen Estragon und Wladimir das Denken ein. Dennoch machen sich die Toten bemerkbar, sie sprechen, sie flüstern, wie Wladimir sagt (vgl. 157). Dieses Unbehagen angesichts der vielen Toten aber kann wiederum nur durch ein Machtwort unterbunden werden. Dieses Machtwort spricht Wladimir aus, es lautet, man solle auf Godot warten (vgl. ebd.).

Das Warten ist Estragon und Wladimir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich selbst dann, wenn sie sich entscheiden zu gehen – so jeweils am Ende der beiden Akte – nicht bewegen können. Selbst wenn sie nicht das Machtwort sprechen, ist es zweifelhaft, ob sie überhaupt jemals wieder handeln würden. Ihre Handlungen sind Spiele, Sprachspiele meistens oder Slapstick. Damit korrespondiert auch die eigenartige Gestaltung von Zeit. Laut Regieanweisung liegen zwischen dem ersten und zweiten Akt keine 24 Stunden. Dennoch können sich weder Pozzo noch der Junge an Estragon und Wladimir erinnern, als seien die Treffen schon lange her. Auch die Tatsache, dass der Baum plötzlich Blätter trägt, widerspricht der Regieanweisung. Ja, selbst Estragon ist sich unsicher, irgendjemanden zu kennen, einschließlich Pozzo und Lucky, wobei Pozzo innerhalb von 24 Stunden erblindet sein soll und ebenfalls vorgibt, Wladimir und Estragon am Vortag nicht getroffen zu haben. Es scheint einerseits also sehr viel Zeit vergangen zu sein, gleichzeitig aber ist die Wunde, die Estragon von Lucky zugefügt bekam, noch frisch. So erweist sich die Zeit als Paradox, was zusätzlich zum nebulösen Charakter des Stücks beiträgt.

Die Zeit ist eine klassische Ordnungskategorie, gerade wenn es um das Theater geht. Aristoteles forderte eine Einheit der Zeit. Ein Drama soll innerhalb eines Sonnenumlaufes stattfinden. Becketts Stück entspricht dieser Forderung und entspricht ihr gleichzeitig nicht. Der zutiefst paradoxe Charakter dieses Stücks zeigt sich vor allem in der Behandlung der Zeit. Neben der unklaren Verortung ist es genau das, was Becketts Theaterstück ausmacht.

Veröffentlicht am 25. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Juli 2023.