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Warten auf Godot

Interpretationsansätze

Philosophischer Ansatz

»Warten auf Godot« hat keine klassische Handlung. Es kommen zwar Ereignisse vor, diese sind allerdings größtenteils isoliert voneinander, sodass es zu keinen Ereignisketten kommen kann. Genau dieser Mangel sorgt dafür, dass sich eine regelrechte Handlung nicht wirklich einstellt. Gleichzeitig ist dieser Mangel keine Schwäche des Stücks, sondern genau das, was das Stück ausmacht. »Warten auf Godot« ist ein Stück über das Warten. 

Warten wiederum ist eine ganz spezifische Tätigkeit: Einerseits ist Warten durch eine Abwesenheit von Handlung gekennzeichnet, schließlich tut man ja nichts, als auf das Eintreffen irgendeiner Sache oder Person zu warten. Warten heißt auch, Handlung aufzuschieben. Andererseits ist das Warten durchaus eine Tätigkeit, wenngleich eine Tätigkeit, die im bewussten Untätigsein besteht. Warten ist somit an sich paradox.

Damit weist »Warten auf Godot« tatsächlich auf eine grundsätzliche Absurdität der menschlichen Existenz hin. Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist selbst das Überleben eine Schuld. Es sind Estragon und Wladimir selbst, die von den »Millionen Toten« sprechen, die niemals gänzlich verstummen. Dass die Lebenden sich mit zirkulären Gesprächen, mit einer Existenz des Als-Ob zufriedengeben, ist ihre Schuld. Die Welt, in der »Warten auf Godot« spielt, hat vielleicht nicht unbedingt apokalyptische Züge, doch in Ordnung ist diese Welt auf keinen Fall. Da viele Ortsangaben im Original auf französische Orte verweisen, legt die Interpretation nahe, die Szenerie befände sich in Frankreich. Dass ein Paar wie Pozzo und Lucky um 1950 durch ein politisch-administrativ intaktes Frankreich hätte marschieren können, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Groteske des Auftritts legt tatsächlich eine aus den Fugen geratene Welt nahe, vielleicht sogar eine postapokalyptische. 

Dessen ungeachtet aber können die ständigen Hinweise auf die Menschheit – etwa in der Szene, in der alle am Boden liegen – durchaus als Einladung verstanden werden, das Stück als Ausdruck der Conditio Humana zu verstehen. Demnach liege die Menschheit am Boden – drastischer, und Becketts Sprache damit gemäßer wäre die Formulierung: Die Menschheit liegt im Dreck. Dies könnte natürlich als Verweis auf die Katastrophen verstanden werden und auf die Unfähigkeit der Menschen, sich dieser Lage gegenüber adäquat zu verhalten. Wenn es im Stück allerdings um allgemeine menschliche Verhältnisse geht, so kann es auch im religiösen Sinn gedeutet werden.

Religiöser Ansatz

Der Philosoph Günter Anders hat sich in einem Essay streng dagegen verwehrt, das Stück religiös zu deuten (Anders 1961: 214). Dennoch ist im Text durchaus genug Material vorhanden, um »Warten auf Godot« einer religiösen Deutung zu unterziehen. Da wäre etwa die frühe Szene zu nennen, in der Wladimir über das Lukasevangelium spricht. Hier geht es um die Frage nach der Erlösung, aber auch um die Frage nach dem eigenen Verschulden. 

Im zweiten Akt bricht Estragon unvermittelt in den Aufschrei aus: »Gott, hab Erbarmen mit mir« (191). Wenig später bezeichnet Wladimir Kain und Abel als die ganze Menschheit. So, als würde sich die Menschheit in Verworfene und Tote teilen. Hier ist freilich keine affirmative Theologie versteckt. Gott – oder Godot – verschanzt sich hinter einem Jungen, der vage Nachrichten bringt. Die Menschen – wenigstens die, die überlebt haben – verharren in Starre und warten auf den Tag, an dem Gott sie endlich erhört. Aber was ist es eigentlich, das sie von Gott wollen? Auch dies wissen sie nicht mehr, ähnlich wie die Protagonisten im Stück nicht wissen, warum sie eigentlich auf Godot warten. Die Menschheit und Gott sind auseinandergefallen und haben sich nichts mehr zu sagen. 

Beckett kannte natürlich Nietzsche und dessen Konzept des getöteten Gottes, wonach Gott nicht einfach gestorben, sondern von den Menschen selbst getötet worden sei (vgl. Nietzsche 1980: 480 f.). Demnach ließe sich die Situation im Stück so verstehen, dass Gott – oder Godot – schon längst abwesend ist, die Menschen also auf sich allein gestellt sind. Doch weil sie sich versündigt haben, Gott/Godot durch ihr Verhalten wenigstens vertrieben, wenn nicht gar getötet haben, sind sie nicht in der Lage, eine würdige –  man könnte auch sagen –  Gott gemäße Existenz zu führen.

Sozialgeschichtlicher Ansatz

Deutlich weniger metaphysisch geht der sozialgeschichtliche Ansatz vor. Allerdings sind unter dem sozialgeschichtlichen Etikett mindestens zwei, teils sehr unterschiedliche Interpretationen möglich.

Die erste Interpretation könnte das Verhältnis von Lucky und Pozzo zum Anlass nehmen, um darüber nachzudenken, welche Klassen sie eigentlich repräsentieren. Pozzo hat Lucky in seiner Gewalt, er ist der Herr, vielleicht sogar der Kapitalist. Wobei er den Eindruck eines regelrechten Kapitalisten gar nicht mehr machen kann, schließlich besitzt ein Kapitalist die Produktionsmittel – erst das macht ihn ja zum Kapitalisten. In der Welt, die dieses Stück zeigt, sind Produktionsmittel jedoch abwesend, wenigstens sind sie nicht Thema. Pozzo verweist auf keinen Reichtum. Viel eher ist Pozzo Repräsentant einer noch älteren Gesellschaftsform. Lucky ist ein Sklave, kein abhängig Beschäftigter. Somit ist das Gefälle zwischen ihnen noch krasser als das zwischen Kapitalist und Proletarier. Marxistisch lässt sich das Stück nur bedingt verstehen. Das, was zwischen Pozzo und Lucky als Beziehung besteht, meint wohl eher eine allgemein menschliche Beziehung.

Die zweite sozialgeschichtliche Interpretation würde das Stück als Ausdruck einer bestimmten Epoche verstehen. Die herumziehenden Estragon und Wladimir könnten etwa als Exilanten, vielleicht auch als Flüchtige verstanden werden. In einer solchen Lesart wäre Godot etwa ein Schleuser, der die beiden in ein anderes Land begleiten soll. 

Tatsächlich kam Beckett ja mit Widerstandskämpfern der Resistance in Kontakt. Innerhalb von Frankreich hat die Resistance bekanntlich auch Schleusertätigkeiten vollführt, etwa indem Juden aus dem besetzten Nordfrankreich in den Süden gebracht wurden. Möglich wäre es, Estragon und Wladimir als solche Displaced Persons zu verstehen, wie es in den Theatern durchaus inszeniert wird. Die merkwürdigen Verhaltensweisen der beiden könnten so psychologisch erklärt werden, Pozzo und Lucky könnten symbolisch für die Nazi-Besetzung stehen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Erfahrungen, die Beckett gemacht hat, ihn bei der Arbeit beeinflusst haben, doch restfrei aufschlüsseln lässt sich das Stück dadurch nicht.

Wobei allerdings gesagt werden muss, dass das Stück sich auch nicht in seiner Gänze verstehen lässt. Es gibt keine Interpretation, die alle Aspekte des Stückes abzubilden in der Lage wäre – außer vielleicht eine vollumfängliche poststrukturalistische Interpretation, die genau diese Unmöglichkeit aufzeigen möchte. Das liegt maßgeblich daran, dass »Warten auf Godot« so ungemein widersprüchlich ist. So bestehen die ganze Zeit Zweifel am Zeitverlauf. Auch ist fraglich, ob die Personen einander kennen. Das Stück ist nicht auf einen Gedanken herunterzubrechen. Genau das macht aber seine ungemeine Stärke aus. 

Veröffentlicht am 25. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Juli 2023.