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Die Physiker

Aufbau des Werkes

In »Die Physiker« ist eine temporale und lokale Einheitlichkeit gegeben: Die Handlung ist übersichtlich und chronologisch , spielt an nur einem Ort (der psychiatrischen Einrichtung) und ist zeitlich auf wenige Stunden begrenzt (Nachmittag bis Abend eines Tages). Der Handlungsort ist der Salon der Villa. Das Drama besteht aus zwei Akten, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten: Die Handlungen und Gedanken des ersten Akts werden im zweiten Akt – bei fast identischen Rahmenbedingungen – in ihr Gegenteil verkehrt. Um diese Gegenüberstellung zu gewährleisten, weisen beide Akte ungefähr dieselbe Länge auf. Es werden sowohl Parallelen als auch Kontraste genutzt, außerdem kommen groteske und paradoxe Elemente zum Einsatz. Im ersten Akt werden alle wichtigen Figuren vorgestellt, der zweite Akt intensiviert die Handlung und endet in der Katastrophe. Dabei erscheint der Text zunächst als kriminalistisch, bevor er immer mehr zum »Problemdrama« wird. Die Höhepunkte beider Akte drehen sich um Möbius: Im ersten Akt ist dies sein »Psalm Salomos« und im zweiten Akt sein Gespräch mit den anderen beiden Physikern Kilton und Eisler über Wissenschaft, Verantwortung und Schuld sowie die anschließende Erkenntnis der drei Wissenschaftler, in der psychiatrischen Einrichtung bleiben zu müssen.

Auffällig im Hinblick auf den Aufbau des Stücks ist die Tatsache, dass alle Protagonisten zwar schon im Verlauf des ersten Akts eingeführt werden, die Physiker Möbius, Kilton und Eisler jedoch erst im zweiten Akt zusammen auftreten. Möglicherweise soll auf diese Weise einerseits betont werden, dass die drei keine Einheit bilden, zumindest nicht von Anfang an. Zunächst verfolgen sie individuelle und vollkommen unterschiedliche Ziele und arbeiten teils gegeneinander – beispielsweise sollen Kilton und Eisler den Physiker Möbius ausspionieren. Erst als Möbius im zweiten Akt verkündet, die potentiell gefährlichen Manuskripte verbrannt zu haben, bilden sie allmählich eine Einheit, die gemeinsam beschließt, in der psychiatrischen Klinik zu bleiben. Damit wird auch suggeriert, dass es möglich ist, eine friedliche, einvernehmliche Lösung durch vernünftige Gespräche zu finden – auch wenn die Differenzen vorher noch so immens waren. Auch werden erst im zweiten Akt die richtigen Namen der Wissenschaftler Kilton und Eisler enthüllt – den wahren Namen des Protagonisten Möbius hingegen erfährt der Leser bereits im ersten Akt, was die Authentizität und Signifikanz des Physikers akzentuiert. Auch die wahre Identität der Leiterin Mathilde von Zahnd offenbart sich erst im Verlauf des zweiten Akts, was ausdrücken soll, dass man manchmal erst genauer hinschauen muss, um die Wahrheit und alle Hintergründe begreifen zu können.

Eine spezielle Rolle nimmt der einleitende Text zu Beginn des Dramas ein: Dieser beschreibt die Umgebung der psychiatrischen Einrichtung, die Einrichtung selbst, sowie die handelnden Figuren und die Zeit. Dabei gestaltet sich dieser Einführungstext recht umfangreich, sodass er an klassische Dramen aus dem Naturalismus denken lässt – ein bekanntes Beispiel hierfür ist »Die Weber« von Gerhart Hauptmann. Er unterscheidet sich jedoch von solchen naturalistischen Texten, indem er darüber hinaus weiterführende Informationen offeriert: So wird der Leser beispielsweise in die Vergangenheit und Hintergründe der Leiterin Mathilde von Zahnd eingeführt oder bekommt einen Einblick von der konkreten Gestaltung der Szene. Der Text am Anfang bietet also eine ausführliche Beschreibung des Geschehens und damit eine geeignete Grundlage, um der Handlung weiter folgen zu können. Damit lässt Dürrenmatt keinen Raum für Spekulationen oder Zweifel, alles ist genauestens dokumentiert. Auf diese Weise liegt eine gewisse Strenge in der Luft, die der Härte des Polizisten zu Beginn des ersten Akts entspricht und auf diese Weise dazu beiträgt, die Unterschiede zwischen dem ersten und zweiten Akt noch stärker hervorzuheben. Auch steht diese Detailgenauigkeit den Zweifeln gegenüber, die sich im Verlauf des Textes immer stärker herausbilden – sowohl, was die Einleitung betrifft als auch im Hinblick auf einzelne Figuren, vor allem Mathilde von Zahnd. 

Veröffentlicht am 12. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 12. Oktober 2022.