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Fräulein Else

Entstehung

»Fräulein Else« ist zwischen 1921 und 1924 entstanden – im Vergleich zu anderen Schnitzler‘schen Texten ein sehr kurzer Zeitraum. In einem ersten Entwurf heißt es: »Ein junges Mädchen tritt nackt in den Speisesaal des Berghotels. Sie erzählt, dass sie beraubt wurde. Motiv: Sie tut es, um die Männer zu prüfen, die sich um sie bewerben.« Die Handlung sollte sich also schon von Beginn an um ein Mädchen drehen, das sich vor Hotelgästen nackt zeigt, um auf diese Weise geschlechtsspezifische Konflikte, gesellschaftliche Werte und Normen sowie individuelle Krisensituationen deutlich zu machen. Letztlich ändert Schnitzler die konkrete Handlung, indem er das Motiv der Erpressung noch stärker in den Fokus stellt. 

Die Idee, »Fräulein Else« als inneren Monolog zu gestalten, kommt Schnitzler schon früh, auch wenn er die ersten seiner insgesamt vier Entwürfe in der dritten Person notiert. Veröffentlicht wird die Erzählung vorab im Oktober 1924 in der »Neuen Rundschau« und als Buchausgabe im November 1924 im Verlag von Paul Zsolnay. Im Gegensatz zu den meisten anderen Texten Schnitzlers wird »Fräulein Else« also nicht vom S. Fischer Verlag herausgegeben, was seine Begründung darin findet, dass sich Schnitzler und Samuel Fischer nicht auf eine für beide Seiten angemessene Bezahlung einigen können.

Die Erzählung erscheint im Jahr 1924 – also nach dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg. Durch den Ersten Weltkrieg haben sich die gesellschaftlichen und geographischen Bedingungen stark verändert, sodass sich die Menschen in einer Zeit der Verunsicherung und Neuerungen wiederfanden. Mit ähnlichen Gefühlen sahen sie sich bereits zur Jahrhundertwende konfrontiert – diese Empfindungen werden nun weiter intensiviert. Auslöser ist insbesondere der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, die darin resultiert, dass sich Österreich dazu gezwungen sieht, Polen, Ungarn, Jugoslawien und die Tschechoslowakei als souveräne Staaten anzuerkennen. Dies hat zum Beispiel für Kunst und Kultur erhebliche Folgen: Künstlerische und kulturelle Waren steigen preislich extrem, sodass sie für die unteren Schichten weitgehend unerschwinglich sind.

»Fräulein Else« fällt in die Epoche des Ästhetizismus: Dieser konzentriert sich hauptsächlich auf das Schöne beziehungsweise Ästhetische. Alle anderen Themen – zum Beispiel Gesellschaft, Politik, Religion oder Moral – sind weniger stark priorisiert und folgen erst nach der Ästhetik. Seinen Ausgangspunkt hat der Ästhetizismus in der Epoche der Romantik (1795–1835). Der Ästhetizismus wird zusammen mit zahlreichen weiteren Strömungen, wie beispielsweise der Dekadenz oder dem Impressionismus, der Moderne zugeordnet; diese Begriffe sind nicht immer gänzlich voneinander abzugrenzen und beeinflussen sich oft gegenseitig. Die Strömungen der Moderne sind darum bemüht, sich von der starren, sachlichen Art des Naturalismus und Realismus zu distanzieren. 

In »Fräulein Else« wird der Bezug zum Ästhetizismus dadurch offensichtlich, dass Else einer edlen, gehobenen Schicht zugewiesen wird, in der sich alles darum dreht, den schönen Schein nach außen zu wahren. Das wird beispielsweise schon dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Vater seine eigene Tochter dem Schein nach außen geopfert wird, indem sie ihm, notfalls auch durch Prostitution, dabei helfen soll, die Schulden zu begleichen und dadurch den Ruf und die Ehre beizubehalten. Sehr deutlich wird das auch anhand der Figur der Tante Emma, die Else nach deren skandalösen Zusammenbruch um jeden Preis loswerden möchte. Schnitzler zeigt außerdem ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten auf, mit den man extreme psychische Zustände und Konflikte artikulieren kann, was durch die Technik des inneren Monologs geschieht. 

Veröffentlicht am 4. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 4. Oktober 2022.