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Fräulein Else

Abschnitt 5

Zusammenfassung

Else erkennt, dass es für sie weniger entwürdigend ist, sich vor allen nackt zu präsentieren als für Dorsday allein. Zudem genießt sie ihre exhibitionistischen Fantasien. Sie bereitet einen Trank zu mit einer Dosis Veronal, von der sie annimmt, dass sie tödlich sei. Dann steckt sie das Telegramm zusammen mit einer Aufforderung das Geld anzuweisen, in einen Umschlag, den sie an Dorsday adressiert. Sie zieht sich bis auf einen Mantel aus, verlässt das Hotelzimmer und legt das Telegramm vor Dorsdays Zimmer. Anschließend geht sie in die Hotelhalle, hält Ausschau nach Dorsday, spricht mit ihrer Tante und sieht Dorsday im Musikzimmer. Dort spielt eine Pianistin Schumanns »Carneval«. Else bricht schreiend in Pauls Armen zusammen, kurz nachdem sie ihren Mantel geöffnet hat. Paul, Cissy und Tante Emma bringen das neunzehnjährige Mädchen auf einer Bahre in ihr Zimmer. Else liegt auf ihrem Bett, bewegt sich nicht, aber nimmt die Geschehnisse um sich herum wahr. Cissy und Paul sind ebenfalls im Zimmer, sie reden mit Dorsday, der an die Tür klopft. Als sie sich unbeobachtet fühlt, trinkt das Veronal. Wenig später spürt sie die Wirkung des Veronals und möchte doch nicht mehr sterben. Sie verliert langsam das Bewusstsein. Als sie um Hilfe rufen will, gehorcht ihre Zunge ihr nicht mehr und sie fällt in tiefen Schlaf.

Analyse

Dass Else das Glas mit Veronal vorbereitet, bevor sie das Zimmer verlässt, deutet darauf hin, dass sie am Ende auch tatsächlich Suizid begeht. Zwar könnte sie auch eine Dosis zubereitet haben, die nicht lebensbedrohlich ist und am Ende lediglich in einen tiefen Schlaf fallen, jedoch bereitet sie die Dosis in einem Moment zu, in dem sie sehr verzweifelt und resigniert wirkt. Möglicherweise stellt sie die Dosis schon jetzt bereit, weil sie fürchtet, letzten Endes doch den Mut zu verlieren und in letzter Minute vor der Selbsttötung zurückzuschrecken. In diesem Fall müsste sie ihr aussichtsloses, tristes, von Problemen durchzogenes Leben weiterführen. Die Tatsache, dass sie das Zimmer nur mit einem Mantel bekleidet verlässt und an ihrem Plan festhält, sich vor allen Hotelgästen nackt zu zeigen, deutet ebenfalls darauf hin, dass sie sich das Leben nehmen wird. Denn durch diesen Akt bricht sie aus ihrer Rolle aus und wird somit nicht mehr in die Gesellschaft passen, wie sie selbst feststellt: »Alle, alle sollen sie mich sehen! Dann gibt es kein Zurück, kein nach Hause zu Papa und Mama, zu den Onkeln und Tanten.«

Auffällig ist, dass Else zusammenbricht, als sie den Mantel öffnet: Das zeugt von ihrer enormen Verzweiflung und ihren psychischen Qualen, die sich nun in einem Moment des Ausbruchs entladen. Dass Cissy, Paul und Tante Emma die Protagonistin auf ihr Zimmer bringen, kann verstanden werden als Einsicht und Hilfe, die jedoch zu spät kommen: Die aufgezählten Figuren stehen repräsentativ für eine Gesellschaft, die erst dann Güte zeigt, wenn es schon zu spät ist. Auch für Else ist es zu spät, ihr Entschluss steht fest: Sie nimmt das Veronal und verfällt in einen traumähnlichen Zustand. Ihre letzten Worte sind dabei die folgenden: »Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich träu … träu – ich flie … …«. Es fällt auf, dass sie zunächst den Zyklus »fliegen – träumen – schlafen« ausspricht, wobei »träumen« und »schlafen« auf ein langsames Einschlafen hindeuten, »fliegen« hingegen auf den Tod. Das lässt sich damit begründen, dass »fliegen« ebenso wie »sterben« mit dem Himmel assoziiert wird: Else fliegt ihren Problemen und der Welt davon und findet ihren Frieden im Tod. In ihrem letzten Satz wiederholt sie den Zyklus »fliegen – träumen – schlafen« nicht, sondern lässt beim zweiten Versuch zunächst das Wort »fliegen« aus und versucht stattdessen, »träumen« auszusprechen, was zunächst auf einen Schlaf und nicht den Tod hindeutet. Dadurch, dass sie abbrechen muss und dann doch zu dem Begriff »fliegen« übergeht, wird deutlich, dass sie stirbt und nicht bloß einschläft. Weil der Tod einsetzt, kann sie dieses Wort nicht mehr vollständig ausformulieren.

Veröffentlicht am 4. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 4. Oktober 2022.