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Der Besuch der alten Dame

Prüfungsfragen

  • Analysieren Sie die Figur von Alfred Ill.

    Alfred Ill ist ein zum Zeitpunkt des Besuches von Claire Zachanassian 65-jähriger Ladeninhaber und Bewohner der Stadt Güllen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. In seiner Heimatstadt ist Alfred Ill so hoch angesehen, dass ihm das Bürgermeisteramt für die Zukunft in Aussicht gestellt wird. Er hat jedoch eine problematische Vergangenheit. Als junger Erwachsener schwängerte er die junge Claire Zachanassian, leugnete die Vaterschaft und entging durch Bestechungen von Zeugen der Verantwortung. Claire Zachanassians Angebot beunruhigt ihn zunächst nicht, da sein Umfeld ihm Solidarität suggeriert. Erst als Reaktion auf die Verhaltensveränderungen seiner Mitmenschen hinsichtlich ihres Kaufverhaltens beginnt er panisch zu werden.

    Zu Beginn der Handlung ist er noch voll in die Gemeinschaft der Gemeinde integriert, durchläuft dann aber unfreiwillig einen Prozess der Isolation von seinen Mitmenschen. Er ist eine paradoxe, dynamisch angelegte Figur, deren Charakter sich im Verlauf der Handlung dementsprechend entwickelt. Vom heuchlerischen Lügner reift er zum Einzelnen, der seine Schuld akzeptieren und dadurch mutig in den Tod gehen kann.

  • Stellen Sie dar, wieso die Figur Alfred Ill nicht dem tragischen Heldentypus nach antikem Vorbild entspricht.

    Alfred Ill entspricht nicht dem tragischen Heldentypus der antiken griechischen Tragödie. Er ist nicht heroisch oder edel und vor allem nicht ohne eigene, negative Motivation »unschuldig schuldig« geworden, was nach Aristoteles Definition die Voraussetzung für einen tragischen Helden ist. Trotzdem sieht Ill die Fehler seines Handelns und damit seine Schuld letztlich ein und stirbt als geläuterter Held.

  • Inwieweit fließt der zeitgeschichtliche Hintergrund des 20. Jahrhunderts in das Drama ein?

    »Der Besuch der alten Dame« macht Friedrich Dürrenmatts Sicht auf die Welt Mitte des 20. Jahrhunderts erkennbar. Für deutschsprachige Nachkriegsdramatiker war die moderne Welt der 1950er Jahre durch Komplexität, Paradoxie (Widersprüchliches) und Chaos gekennzeichnet. Auf das Grauen und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs folgte unmittelbar der Kalte Krieg zwischen Ost und West und mit ihm Anfang der 1950er Jahre das atomare Wettrüsten, das zu einem Atompatt - dem »Gleichgewicht des Schreckens« wurde. Gleichzeitig unterstützen die USA mit dem Marshall-Plan Deutschland und damit ihren ehemaligen Feind. Neben Deutschland begann auch die Schweiz in den 1950er Jahren wirtschaftlich zu florieren. Dürrenmatt empfand die Welt Mitte des 20. Jahrhunderts angesichts dessen als absurd, paradox und chaotisch und ließ dies auch in sein Drama »Der Besuch der alten Dame« einfließen.

  • Legen Sie dar, inwiefern »Der Besuch der alten Dame« Friedrich Dürrenmatts Theaterauffassung widerspiegelt?

    Dürrenmatt selbst wählte für sein Drama die Bezeichnung »tragische Komödie«. Als Tragikomödie beinhaltet »Der Besuch der alten Dame« sowohl Elemente aus der Komödie, als auch aus der klassischen Tragödie. Für Nachkriegsdramatiker wie Dürrenmatt hatte die klassische Tragödie angesichts der politischen und gesellschaftlichen Umstände Mitte des 20. Jahrhunderts ausgedient. Die Ursache dafür lag für Dürrenmatt in den Umstand, dass die klassische Tragödie Schuld und Verantwortung des Individuums voraussetzen würde. Der moderne Mensch würde aber kein unabhängiges Individuum, sondern nur noch Teil der Gemeinschaft und damit Teil einer kollektiven Identität ohne persönliche Einzelschuld oder Verantwortlichkeit sein.
    Klassische Tragödien konnte es nach Dürrenmatts Auffassung ohne individuelle Schuld und Verantwortlichkeit nicht mehr geben. Stattdessen verfassten Dramatiker der Gegenwart wie Dürrenmatt Tragikomödien wie »Der Besuch der alten Dame«, um Tragisches darzustellen. Diese waren durch Absurdität gekennzeichnet, um dem Paradoxen und dem Chaos der Welt Mitte des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden.

  • Erläutern Sie die Bedeutung des »Schwarzen Panthers« als zentrales Symbol.

    Claire Zachanassian hat diese Bezeichnung in der Vergangenheit als Kosenamen für Alfred Ill verwendet und führt einen in einem Käfig eingesperrten, schwarzen Panther mit sich, als sie nach Güllen kommt. Der mitgeführte schwarze Panther steht für Alfred Ill, kann mit ihm gleichgesetzt werden und deutet seine Zukunft bzw. seinen Tod voraus.

    Während Ill beim Polizisten um Hilfe sucht, setzt sich eine symbolische Parallelhandlung in Gang: Der Panther ist aus seinem Käfig entwischt und in der Stadt bricht geradezu eine Treibjagd aus. Auch Alfred Ill sieht in Anbetracht seiner zunehmenden Ausgrenzung aus der Gemeinde die Parallelen zu sich selbst. Es findet eine Überlagerung von der Jagd auf das Tier und auf Alfred Ill als Menschen statt. Die Bereitschaft zu archaischer Gewalt steigt in Anbetracht des potentiellen Konjunkturaufschwungs. Der Panther wird symbolträchtig vor Alfred Ills Laden niedergeschossen.

  • Charakterisieren Sie Alfred Ill und die Güllener hinsichtlich der Themen Schuld und Schuldbewusstsein.

    Alfred Ill hat als junger Mann wider besseres Wissen geleugnet, der Vater von Claire Zachanassians ungeborenem Kind zu sein. Zudem hat er die beiden Zeugen Ludwig Sparr sowie Jakob Hühnlein bestochen, um seine Darstellung durch deren Falschaussagen vor Gericht zu untermauern. Claire Zachanassian sah sich anschließend gezwungen, die Stadt als sozial geächtete Frau zu verlassen. Alfred Ill trägt somit eine aus seiner Vergangenheit greifende, moralische Schuld. Das von ihm an Claire Zachanassian verübte Unrecht und seine moralische Schuld hat er im Laufe seines Lebens vergessen. Erst während ihres Besuchs und in Anbetracht seiner zunehmenden Isolierung wird Alfred Ill sich seiner Schuld bewusst und bekennt sich dann auch zu dieser.

    Die Güllener haben sich genau wie Alfred Ill in der Vergangenheit moralische Schuld auf sich geladen, indem sie die schwangere Claire Zachanassian geächtet und aus der Gemeinschaft verstoßen haben. Ihre Mitschuld an Claire Zachanassians Werdegang wird von der Güllener Gemeinde verdrängt: Alfred Ill wird zum Sündenbock gemacht. Durch den Mord an ihm machen sich die Güllener als Kollektiv sowohl in moralischer, als auch in krimineller Hinsicht schuldig. Im Gegensatz zu Alfred Ill weisen sie dabei keinerlei Schuldbewusstsein auf, sondern sind im Gegenteil sogar davon überzeugt, im Namen der Gerechtigkeit gehandelt zu haben.

  • Was versteht man unter dem Stilmittel des »Grotesken« und was ist an dem Drama grotesk?

    Beim Grotesken wird alles verfremdet, absurd und übertrieben dargestellt. Nichts erscheint mehr so, wie man es aus der Realität oder dem Alltag kennt. Das Groteske soll auf den Rezipienten eine schockierende Wirkung haben. Was zu Anfang lustig erscheint, entpuppt sich als erschreckend und furchterregend. »Der Besuch der alten Dame« weist groteske, nicht alltägliche Figuren und Handlungen auf, die einerseits komisch sind, aber auch etwas Erschreckendes an sich haben.

    Eindeutig grotesk sind die »Besucher«, folglich Claire Zachanassian und ihr Gefolge, welches aus wechselnden Ehemännern, Schwerverbrechern und geblendeten Eunuchen besteht. Bereits Claire Zachanassians gesamte Erscheinung wirkt grotesk, woran auch die Regieanweisungen in diesem Kontext keinen Zweifel lassen. Ihr Körper besteht zu einem nicht kleinen Teil nur noch aus Prothesen, dazu reist sie mit einer Unmenge an Koffern, einem Sarg und einem Panther in Güllen an. Sie scheint darüber hinaus unsterblich zu sein, weil sie neben einem Autounfall auch als einzige einen Flugzeugabsturz überlebt hat.

  • Inwieweit ist »Der Besuch der alten Dame« tragisch bzw. komisch?

    Der Poetik von Aristoteles (335 v. Chr.) lässt sich entnehmen, dass der entscheidende Unterschied zwischen Tragödie und Komödie der folgende ist: »Die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.« Bessere Menschen als sie in der Realität vorkommen, weist »Der Besuch der alten Dame« definitiv nicht auf. Es stellt sich die Frage, ob sie schlechter gezeichnet sind, als man es aus der Wirklichkeit kennt, oder einfach authentisch sind und damit der Realität am nächsten kommen.

    Tragisch ist eindeutig der Werdegang von Alfred Ill, der von einem beliebten und integriertem Mitglied der Gesellschaft zum geächteten Straftäter und gejagtem Außenseiter degradiert und damit vom Täter zum Opfer wird. Tragödientypisch ist ein tragisches Ende, also dass der Held am Ende des Stückes eines tragischen Todes stirbt. Alfred Ill stirbt auf tragische Weise, indem er von seinen Mitmenschen zugunsten des Geldes geopfert und gelyncht wird. Daneben werden zahlreiche Bezüge zur antiken griechischen Tragödie hergestellt. Neben der Komik und Ironie, welche das Drama insbesondere im ersten Akt aufweist, ist das Ende nicht nur tragisch, sondern auch ein komödientypisches Happy End, da Güllen wieder floriert und die Bewohner sich alle an dem Wohlstand erfreuen können.

  • Führen Sie aus, inwiefern das Drama als Kapitalismuskritik gedeutet werden kann.

    Zweifellos führt »Der Besuch der alten Dame« die Gefahren vor Augen, die Geldgier und Materialismus mit sich bringen können. Es stellt sich die Frage, inwieweit Geld und Materialismus Einfluss auf unser Handeln ausüben dürfen, sobald es um Werte und Moral geht. Geld und Materialismus spielen in dem Drama eine große Rolle. Geld ist das Machtmittel, das Claire Zachanassian besitzt und das sie den Güllenern entzogen hat, indem sie ihre Stadt aufgekauft und damit in den finanziellen Ruin getrieben hat.

    Ihr Geld verleiht ihr grenzenlose Macht. Sie kann sich völlig willkürlich verhalten und sich über sämtliche gesellschaftliche Konventionen und moralische Werte hinwegsetzen. Die Güllener sind ihr in dieser Hinsicht komplett ausgeliefert, denn Claire Zachanassian besitzt im Gegensatz zu ihnen allein die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Die Figur der Claire Zachanassian kann demnach durchaus als Symbol des allmächtigen Kapitalismus bzw. seiner negativen Auswirkungen gedeutet werden.

  • Der Lehrer vergleicht Claire Zachanassian mit zwei weiblichen Figuren aus der griechischen Mythologie: Klotho sowie Medea. Erläutern Sie diesen Vergleich.

    In der griechischen Mythologie ist Klotho die jüngste von drei Schicksalsgöttinnen. Diese spinnen den Lebensfaden und damit den Lebensweg eines jeden Menschen. Sie entscheiden sowohl über Lebensdauer, als auch über die Lebensqualität eines jeden Menschen - also wie glücklich oder unglücklich der Mensch im Verlauf seines Lebens sein wird und wie viele Schicksalsschläge er oder sie erdulden muss. So wie Klotho als Schicksalsgöttin über das Leben anderer bestimmt, bestimmt auch Claire Zachanassian über das Leben von Alfred Ill, nachdem sie nach Güllen gekommen ist.

    Die Figur der Medea ist ebenfalls eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, auf die auch Euripides zurückgriff, als er 431. V. Chr. seine Tragödie Medea verfasste. Medea ist zauberkundig und hilft ihrem Geliebten Iason mit ihren Zauberkräften bei der Jagd nach dem Goldenen Vlies. Beide heiraten und bekommen zwei Kinder. Iason verlässt Medea zugunsten der Tochter des Königs Kreon von Korinth. Rasend vor Wut ersinnt Medea daraufhin einen Racheplan. Neben Iasons neuer Braut und deren Vater tötet sie auch ihre eigenen Kinder. Medea ist demnach der Prototyp der aktiven, Rache ausübenden Frauenfigur. Claire Zachanassian wird genau wie Medea von ihrem Geliebten sitzen gelassen und rächt sich dafür auch auf eine grausame und skrupellos erscheinende Weise.

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.