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Der Besuch der alten Dame

2. Akt

Zusammenfassung

Die Handlung setzt morgens in Alfred Ills Geschäft ein. Alfred Ill kommentiert die täglich angelieferten Trauerkränze, die Roby und Toby ins Hotel schaffen. Er ist sich sicher, die Güllener auf seiner Seite zu haben. Er schlägt seiner Tochter und seinem Sohn jeweils vor, gemeinsam zu frühstücken, was beide ablehnen, um stattdessen Arbeit zu suchen. Gleichzeitig findet unter Gitarrenmusik eine Parallelhandlung auf dem Balkon des »Goldenen Apostels« statt, wo Claire Zachanassian untergebracht ist. Alfred Ill bedient ungewöhnlich viel Kundschaft. Alle kaufen verhältnismäßig teure Waren, die sie nicht bezahlen, sondern von ihm anschreiben lassen. Gleichzeitig sichern die Stadtbewohner ihm ihre uneingeschränkte Solidarität zu. Zu der Milliardärin gesellt sich auch ihr frisch angetrauter, neunter Ehemann auf den Balkon. Beide unterhalten sich. Alfred Ill bemerkt plötzlich, dass alle seine Kunden neue gelbe Schuhe tragen und reagiert daraufhin panisch.

Alfred Ill sucht den biertrinkenden Polizisten auf und verlangt von ihm die Verhaftung von Claire Zachanassian. Dieser erläutert ihm, dass das Angebot der Besucherin ohnehin nicht ernst zu nehmen wäre, weswegen seinerseits auch kein Handlungsbedarf bestehen würde. Alfred Ill hingegen führt aus, dass er sich angesichts des Angebotes und des veränderten Kaufverhaltens seiner Mitmenschen von diesen bedroht fühle. Nach wie vor wechselt zwischenzeitlich das Geschehen zu Claire Zachanassian auf den Balkon. Der Polizist lädt ein Gewehr und versichert Alfred Ill währenddessen, sofort durchzugreifen, sobald dieser tatsächlich einer realen Bedrohung ausgesetzt sein werde. Alfred Ill fällt in diesem Zusammenhang ein neuer Goldzahn im Mund des Polizisten auf. Er hebt in Angesicht des auf ihn gerichteten Gewehrlaufs die Hände. Der Polizist weist Alfred Ills Anliegen abermals als Spinnerei ab und erklärt, dass Claire Zachanassians schwarzer Panther entlaufen sei und jetzt von ihm selbst und der ganzen Stadt gejagt werden müsse. Alfred Ill jedoch verkündet, dass alle in Wahrheit ihn jagen würden.

Die Handlung verlegt sich in das Güllener »Stadthaus«. Auf den mit einem Revolver bewaffneten Bürgermeister folgt Alfred Ill. Erster berichtet von der Jagd auf den Panther, an der er sich beteiligen würde. Immer noch wechselt die Handlung zwischendurch zu Claire Zachanassian, die sich weiterhin auf dem Balkon befindet und geschäftliche oder private Dinge regelt. Alfred Ill bemerkt, dass der Bürgermeister teure Zigarren raucht und darüber hinaus sowohl eine neue Krawatte, als auch neue Schuhe besitzt. Er fordert vom Bürgermeister behördlichen Schutz, da auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt sei. Dieser empfiehlt Alfred Ill daraufhin, sich an die Polizei zu wenden. Nachdem er auf den neuen Goldzahn des Polizisten anspielt, beruft sich der Bürgermeister auf die humanistischen Werte Güllens und die herrschende Rechtsstaatlichkeit. Im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit verlangt Alfred Ill abermals die Verhaftung von Claire Zachanassian, woraufhin der Bürgermeister in Anbetracht von Alfred Ills Vergehen in der Vergangenheit Verständnis für das Angebot der Milliardärin äußert. Anschließend macht er Alfred Ill deutlich, dass dieser aus moralischer Sicht nicht mehr als Bürgermeister in Frage kommen würde.

Der Bürgermeister vertritt die Ansicht, dass die gesamte Angelegenheit diskret behandelt werden solle, wonach auch die örtliche Presse nicht darüber berichten würde. Alfred Ill hingegen hält es für die ihm einzig verbleibende Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Der Bürgermeister jedoch weist seine Befürchtungen gegenüber den Güllenern zurück, aber Alfred Ill ist sich angesichts eines von ihm entdeckten Bauplans für ein neues Stadthaus sicher, dass die Bewohner von Güllen bereits sein Todesurteil gefällt hätten.

Der nächste Schauplatz ist die Güllener Sakristei. Alfred Ill kommt zum Pfarrer, welcher ebenfalls ein Gewehr mit sich führt und angibt, auch an der Jagd nach den Panther beteiligt zu sein. Alfred Ill teilt dem Pfarrer mit, dass er auf der Suche nach Hilfe sei, da er Angst vor seinen Mitmenschen haben würde. Ihm wird darauf vom Pfarrer dargelegt, dass man keine Angst vor seinen Mitmenschen haben solle, sondern ausschließlich um das eigene Seelenheil in Hinblick auf das ewige Leben. Währenddessen ist zu sehen, dass - neben dem Polizisten und dem Bürgermeister - auch die vier Güllener Bürger sowie der Maler und der Lehrer an der Pantherjagd teilnehmen. Nachdem Alfred Ill aufgefallen ist, dass eine zweite Glocke angeschafft wurde, fordert der Pfarrer ihn zur Flucht auf, damit die Güllener der Verlockung hinsichtlich Claire Zachanassians Angebot nicht erliegen.

Der Milliardärin wird von ihrem Butler mitgeteilt, dass der Panther erschossen worden sei und vor Alfred Ills Laden liege. Der Chor erscheint unter Leitung des Lehrers, um der Besucherin Beileid auszusprechen, wobei der angestimmte Trauergesang von dem mit einem Gewehr ausgestatteten Alfred Ill unterbrochen wird. Dieser wirft der Ansammlung vor, nicht über den Tod des Panthers, sondern um den seinigen zu singen und fordert alle zum Gehen auf. Anschließend wendet er sich an Claire Zachanassian und appelliert an sie, ihr Angebot als makabren Scherz zu offenbaren, wobei er sie mit seiner Waffe bedroht. Sie geht allerdings nicht auf das von ihm Gesagte ein, sondern schildert stattdessen, wie sie das damalige erste Aufeinandertreffen der beiden empfunden hat, woraufhin Alfred Ill von ihr ablässt. Schließlich lässt die Besucherin sich mit dem Hinweis, eine Milliarde transferieren zu müssen, von Boby in ihr Zimmer geleiten.

Die letzte Szene spielt am Güllener Bahnhof. Zu erkennen sind folgende Veränderungen: ein neuer Fahrplan und ein Werbeplakat sowie Baukräne zwischen den Häusern der Stadt, von denen einige neue Dächer aufweisen. Alfred Ill befindet sich mit einem Koffer ausgerüstet auf dem Weg zum Bahnhof. Wie durch Zufall tauchen von überall andere Güllener auf und wollen ihn zu seinem Ziel begleiten. Alfred Ill erläutert, dass er bis nach Australien verreisen wolle, woraufhin allgemein beteuert wird, dass er in Güllen - wo niemand ihn umbringen wolle - immer noch am sichersten sei. Daraufhin äußert er seinen Verdacht, dass sein Schreiben an den Regierungsstatthalter von Kaffigen unterschlagen worden wäre, was von allen anwesenden Güllenern entschieden abgestritten wird. Der Zug fährt ein und Alfred Ill wird von allen Seiten eine gute Reise gewünscht. Dieser vermag es - aufgrund seiner Befürchtung, von den Umstehenden zurückgehalten zu werden - nicht in den Zug einzusteigen. Schließlich fährt der Zug ohne ihn ab. Die Güllener ziehen sich hierauf zurück. Der inzwischen auf die Knie gesunkene Alfred Ill teilt daraufhin mit, dass er verloren sei.

Analyse

Der zweite Akt baut auf der am Ende von Akt 1 erfolgten Ankündigung der Milliardärin Claire Zachanassian auf. Alfred Ills anfängliche Zuversicht gegenüber den Güllenern (S. 51) beginnt, angesichts der sich vollziehenden Veränderungen hinsichtlich des Konsumverhaltens seiner Mitbürger zu schwinden. Dementsprechend entwickelt sich die Handlung bis zu Alfreds Fluchtversuch als Peripetie. Schließlich kapituliert er in Anbetracht seiner Lage vollständig (S. 85), wodurch das Ende des zweiten Aktes markiert wird. Die Bühne ist im zweiten Akt geteilt. Einzelne Szenen - mit Alfreds Figur als Dreh- und Angelpunkt - wechseln, während Claire Zachanassian als Schicksalsverkörperung passenderweise konstant erhaben über der Stadt und allem Geschehen thront und nur zeitweilig auf dem Balkon erscheint, ohne wirklich an der Handlung beteiligt zu sein (S. 51ff.). Die wartende Milliardärin ist sich ihrer Sache nach wie vor sehr gewiss, denn inzwischen werden täglich Trauerkränze nach Güllen geliefert, über deren grausige Bedeutung mittlerweile allgemein Klarheit herrscht (S. 51).

Was unterhalb des Balkons ihrer Güllener Unterkunft geschieht, verfolgt Claire Zachanassian am Rande, hält sich aber aus dem aktiven Geschehen offenkundig heraus. Ihre Unzugänglichkeit in Kombination mit ihrer im Vergleich zu den restlichen Figuren erhöhten, göttergleichen Position auf dem Balkon unterstreicht, was Dürrenmatt im Anhang in Hinblick auf die Figur der Besucherin erläutert: »[…] da sie sich außerhalb der menschlichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderliches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden.« (S. 143) Dass sich die Besucherin nicht nur in moralischer und finanzieller Hinsicht außerhalb der Norm bewegt und unmenschlich erscheint, liegt zu einem wesentlichen Teil an dem Umstand, dass sie bekanntermaßen zu großen Teilen aus Prothesen und damit aus künstlichen Körperteilen besteht. Dieser Gesichtspunkt, der sie entmenschlicht erscheinen lässt, wird zu Beginn des zweiten Aktes auf besonders bizarre Weise vergegenwärtigt: »Reich mir mein linkes Bein herüber, Boby.« (S. 52) und »Ich bin wieder montiert.« (S. 54). Die Milliardärin erscheint geradezu wie eine Apparatur.

Alfred Ill durchläuft in Akt 2 folglich einen schleichenden Prozess der Isolation von seinen Mitmenschen, wobei diese erfolgende Separation seiner Person aus dem städtischen Kollektiv absichtlich oder unabsichtlich von seinem Umfeld vorangetrieben wird. Bereits am Anfang des Aktes schlagen seine beiden Kinder ein gemeinschaftliches Familienfrühstück - unter dem Vorwand, sich stattdessen eine Arbeit zu suchen - aus (S. 52). Alfred schöpft anfangs allerdings noch keinerlei Verdacht - weder seinen Familienangehörigen, noch seiner Kundschaft gegenüber - obwohl bereits sein erster Kunde des Tages kostspieligere Zigaretten als normalerweise verlangt, und diese anschreiben lässt (S. 53). Alfred fühlt sich jedoch nicht bedroht, sondern empfindet sich angesichts der kollektiven Ablehnung von Claire Zachanassians Angebot im Gegenteil mehr denn je als glücklicher Teil der Güllener Gemeinschaft. Gleichzeitig ist er sich nach wie vor keiner Schuld bewusst und verharmlost sein Vergehen sogar: »Sie hat sich verrechnet. Ich bin ein alter Sünder, […], wer ist dies nicht. Es war ein böser Jugendstreich, den ich ihr spielte, doch wie da alle den Antrag abgelehnt haben, […], war´s die schönste Stunde in meinem Leben.« (S. 56) Er bemerkt zwar, dass er seit mehreren Tagen mehr Kunden hat als zuvor, zieht daraus aber immer noch keine Schlüsse: »Eine Kundschaft habe ich diesen Morgen. Sonst die ganze Zeit niemand, und nun strömt´s seit einigen Tagen.« (ebd.)

Es lässt sich nicht eindeutig festmachen, ob Alfreds Kunden und Mitmenschen sich bewusst für Claire Zachanassians Angebot und damit für seinen Tod entschieden haben oder etwa aus einem gemeinschaftlichen, vorsätzlichen Beschluss heraus handeln. Es ist durchaus denkbar, dass sie als Einzelpersonen von sich selbst denken, wirklich prinzipientreu und nicht käuflich zu sein und dass für sie entsprechend die Devise »Für Geld kann man eben alles haben.« (S. 59) nicht gültig erscheint - nichtsdestotrotz sie bereits widersprüchlich handeln. Alfred bringt es wohl auf den Punkt: »Keiner will mich töten, jeder hofft, daß es einer tun werde, und so wird es einmal einer tun.« (S. 71)

Der Autor selbst erklärt die Bewohner Güllens und ihr Handeln im Anhang folgendermaßen: »[…] die Güllener, Menschen wie wir alle. Sie sind nicht böse zu zeichnen, durchaus nicht; zuerst entschlossen, das Angebot abzulehnen, machen sie nun Schulden, doch nicht im Vorsatz, Ill zu töten, sondern aus Leichtsinn, aus einem Gefühl heraus, es lasse sich alles schon arrangieren.« (S. 143)

Ulrich Weber führt aus: »Dürrenmatt interessiert der soziale Mechanismus der Aufhebung individueller Verantwortlichkeit im Kollektiv, welches sich zugleich als gerechtes Gemeinwesen inszeniert, während im Gegensatz dazu die […] Vereinzelung aus […] Alfred Ill erst einen Einzelnen macht […]« (Weber, S. 112) Dass die Güllener Gemeinschaft Alfred Ill - bewusst oder unbewusst - zu einem »Einzelnen« herabgesetzt und damit einhergehend sein Todesurteil gefällt haben könnte, kommt ihm erst in den Sinn, als er die neuen, gelben Schuhe bemerkt, die seine Kunden auf einmal alle tragen und ihm angsterfüllt klar wird, dass alle sich bereitwillig verschulden (S. 59f.). Ihm wird in diesem Augenblick bewusst, dass seine Mitmenschen in der Erwartung handeln, in absehbarer Zukunft über eine größere Summe Geld zu verfügen, und dementsprechend von seinem baldigen Tod bzw. seiner Ermordung ausgehen. Die gelben Schuhe sind auch ein Zeichen für Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und dass Alfred Ill aus dieser verstoßen wurde.

Claire Zachanassian deutet den Tumult, den Alfred Ill anschließend auslöst, ganz folgerichtig und makabererweise als Streit »um den Fleischpreis« (S. 60) - schließlich sieht Alfred Ill inzwischen sein Leben bedroht. Er wendet sich in seiner Angst an den Polizisten, den Bürgermeister und den Pfarrer und somit an die Güllener Vertreter staatlicher, politischer sowie kirchlicher Institutionen. Dabei wird deutlich, dass besagte Instanzen versagen, da keine der Einrichtungen über die Verführungskraft von Claire Zachanassians Geld erhaben ist.

Der Polizist verweist seinem neuen Goldzahn zum Trotz auf seine Berufsehre, aufgrund derer sich Alfred Ill grundsätzlich in Sicherheit wiegen könne: »[…] Die Polizei ist da, den Gesetzen Respekt zu verschaffen, für Ordnung zu sorgen, den Bürger zu schützen. Sie weiß, was ihre Pflicht ist.« (S. 65) Ebenso als leere Worte und hohle Phrasen entpuppt sich das vom Bürgermeister Gesagte. Dieser beruft sich abermals auf die moralische Verpflichtung, welche die humanistische Tradition Güllens mit sich bringen würde (S. 69). Die vermeintliche Bekenntnis des Bürgermeisters zu humanistischen Werten und hohen Idealen verdeutlicht, dass diese nicht vor moralischem Versagen schützen, solange sie lediglich als hohle Phrasen gebraucht werden.

Lediglich der Pfarrer räumt Alfred Ill gegenüber ein, dass dieser das Handeln seiner Mitmenschen durchaus richtig interpretieren würde: »Flieh! Wir sind schwach, Christen und Heiden. Flieh, die Glocke dröhnt in Güllen, die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst.« (S. 75f.) Gleiches wie für humanistische Werte gilt demnach auch für religiöse bzw. christliche Werte.

Parallel zu Alfred Ills Gesprächen mit den Güllener Amtsträgern kommt es zu dem symbolisch aufgeladenen Geschehen hinsichtlich des schwarzen Panthers - eine Vorwegnahme von seiner Zukunft. Auf den Panther wird stellvertretend für Ill sehr direkt von der gesamten Stadt Jagd gemacht; letztlich wird er plakativ vor seinem Laden erschossen (S. 76). Auch Ills Fluchtversuch scheitert an der indirekten Bedrohung, die von seinem Umfeld ausgeht und die ihn lähmt (S. 84). Am Ende des zweiten Aktes wird deutlich, dass Alfred Ill dem Schicksal bzw. Claire Zachanassian ausgeliefert ist und er - anders als von ihm angenommen – seinem Schicksal und seiner Schuld nicht entfliehen kann: »Ich bin verloren!« (S. 85).

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.