Skip to main content

Der Besuch der alten Dame

Sprache und Stil

»Der Besuch der alten Dame« ist gekennzeichnet von Dürrenmatts Blick auf die moderne, komplex gewordene Welt Mitte des 20. Jahrhunderts im Zeichen des Kalten Krieges. Ihm ist es wichtig, die Absurdität und das Paradoxe - also die Widersprüchlichkeit einer chaotischen Welt - zu demonstrieren. Dazu dient ihm neben sprachlichen Paradoxien das sogenannte Groteske als Element und Stilmittel. Beim Grotesken wird die Realität so verfremdet und übertrieben dargestellt, dass nichts mehr normal wirkt. Bernd Peter Marquart führt aus: »Das Groteske im Bereich der Literatur wird als Mittel besonders der literarischen Satire und des schwarzen Humors beschrieben, wobei eine gezielt schockierende Wirkung angestrebt wird. Gelächter soll in Erschrecken umschlagen […].« (Marquart, S. 24) 

Das Groteske sorgt auch im Werk »Der Besuch der alten Dame« dafür, dass Figuren, Handlungen oder Dinge einerseits lustig wirken, gleichzeitig aber etwas Schauerliches und Furchteinflößendes an sich haben und zieht sich durch das gesamte Drama. Offensichtlich grotesk im Kontrast zu den gewöhnlichen Güllenern wirkt die Figur der dekadenten Claire Zachanassian mit ihrem aus Eunuchen und Schwerverbrechern bestehenden Begleittrupp, ihren Prothesen und makabren Anspielungen. Einen Hinweis darauf geben bereits die Regieanweisungen in Bezug auf ihre äußerliche Erscheinung (S. 22). Generell kennzeichnen kurze, oftmals elliptische Äußerungen das Drama. Besonders fällt dies bei Claire Zachanassian auf, deren Aussagen aus diesem Grund sehr unverblümt, bestimmt und zweckorientiert wirken: »Zwei Gangster aus Manhattan, in Sing-Sing zum elektrischen Stuhl verurteilt. Auf meine Fürbitte zum Sänftentragen freigelassen. Kostete mich eine Million Dollar pro Fürbitte.« (S. 30f) Als sprachlich-stilistische Mittel fallen insbesondere die vielen Vorausdeutungen und Doppeldeutigkeiten innerhalb des Stückes auf: »Wundervoll, diese Muskeln! Haben Sie schon jemanden erwürgt mit ihren Kräften?« (S. 41) oder »Todsicher, Herr Ill, todsicher.« (S. 57) 

Güllen als Ort des Geschehens trägt einen Namen, der an Gülle oder Jauche erinnert, als Symbol für den Werteverfall. Ebenso symbolisch ist der schwarze Panther, der von der Stadt gejagt und getötet wird und Alfred Ills Werdegang vorwegnimmt. Parodiert werden antike, tragödientypische Motive wie das Rache- und das Schuldmotiv, genauso wie die (romantische) Liebe als klassisch-zeitloses Motiv der Literaturgeschichte. Dürrenmatt selbst bezeichnet in seinen Randnotizen Claire Zachanassian und Alfred Ill ironisch als »[…] klassisches Liebespaar mit einigen Abweichungen. Fast Mythen.« (S. 139) Dementsprechend lächerlich wirkt die poetische Sprache, die Claire Zachanassian und Alfred Ill plötzlich im Konradsweilerwald verwenden, während sie in Erinnerungen schwelgen: »[…] Ich ging schon lange nicht mehr im Walde meiner Jugend, stampfte schon lange nicht mehr durch Laub, durch violetten Efeu. […]« (S. 36).

Ebenso parodistisch wirkt in diesem Kontext die mehrfache Anspielung auf Shakespeares Romeo und Julia (S. 35 u. S. 114) als Motiv für durch tragische Umstände voneinander getrennte Liebende. Die Äußerungen der vier Güllener Bürger zu Beginn des ersten Aktes unterstreichen die nicht vorhandene Individualität der Stadtbewohner und ihre Verschmelzung zu einem Kollektiv, da das Gesagte völlig austauschbar ist und einfach ineinander übergeht (S. 14). Das Miteinandersprechen der Einwohner steigert sich im Verlauf des Stückes zu simultanem, chorischem Sprechen. Nach der erfolgten Abstimmung im Zuge von Ills Verurteilung äußern sich die Güllener nur noch gemeinschaftlich als »Die Gemeinde« im Wechsel mit dem Bürgermeister (S. 124f.). Das simultane Miteinandersprechen des Güllener Kollektivs gipfelt in dem Chorlied am Ende des Stücks. Die Güllener formieren als parodistische Bezugnahme zur antiken griechischen Tragödie zwei Chöre. Das Gesagte entspricht dabei dem daktylischen Versmaß antiker Dichtungen. Das feierliche Chorlied verpackt das Verbrechen und die materielle Gier der Güllener in schöne Worte und wirkt deswegen besonders grotesk. Die Verdoppelung als rhetorisches Stilmittel lässt sich nicht nur bei den Güllener Bürgern, sondern vor allem bei Koby und Loby aus Claire Zachanassians Gefolge feststellen. Diese verleiht ihren Äußerungen einen unbeholfenen, mechanischen Charakter: »Wir sind Koby und Loby, wir sind Koby und Loby.« (S. 47) 

Das Stück enthält zwei Arten von Reden: Der Bürgermeister hält im ersten Akt eine Begrüßungsrede, der Lehrer im dritten Akt eine Gerichtsrede. Die Ansprache des Bürgermeisters ist einschmeichelnd und zeichnet sich durch sehr viele Euphemismen aus, was ihr neben Ironie und Komik den Charakter einer politischen Rede verleiht. So beschönigt er unter anderem Claire Zachanassians mäßige Schulleistungen folgendermaßen: »[…] Ihre Leistung in der Schule wird noch jetzt von der Lehrerschaft als Vorbild hingestellt […].« (S. 43) Bei seiner Gerichtsrede bedient sich der Lehrer klassischer Rhetorik. Sie weist dementsprechend rhetorische Figuren wie Anaphern, Alliterationen, Wiederholungen und rhetorische Fragen auf: »[…] Habt ihr diesen Hunger, Güllener, diesen Hunger des Geistes, und nicht nur den anderen, profanen, den Hunger des Leibes?« (S. 122).

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.