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Der Besuch der alten Dame

3. Akt

Zusammenfassung

Der Schauplatz der ersten Szene ist die Petersche Scheune. Dorthin hat sich Claire Zachanassian im Anschluss an ihre Hochzeit mit ihrem achten Ehemann zurückgezogen. Der Arzt und der Lehrer erscheinen gut gekleidet und informieren sie darüber, dass die Bewohner Güllens verschiedenste Anschaffungen getätigt und sich in der Folge verschuldet hätten. Sie legen der Besucherin nahe, direkt in die Güllener Wirtschaft zu investieren, indem sie unter anderem die »Platz-an-der-Sonne-Hütte« erwirbt und wieder rentabel macht. Claire Zachanassian offenbart, dass ihr die Güllener Unternehmen und Produktionsstätten bereits alle gehören würden und sie aktiv dafür gesorgt habe, dass diese den Betrieb hätten einstellen müssen. Sie führt aus, bei ihrer damaligen Abreise aus Güllen den Entschluss gefasst zu haben, eines Tages zurückzukommen und in ihrem Sinne über die Geschicke der Stadt zu bestimmen. Diese Zeit sei jetzt gekommen.

Da ihr zukünftiger neunter Ehemann nun in der Stadt eingetroffen ist, verlangt sie, in ihre Unterkunft zurückgetragen zu werden. Der Lehrer appelliert an sie, im Sinne der Humanität Milde walten zu lassen und Abstand von ihrer Racheabsicht zu nehmen. Claire Zachanassian erklärt daraufhin, dass Humanität etwas für Millionäre sei, während sie als Milliardärin dazu in der Lage sei, die Herrschaft und Macht über alles auszuüben. Sie ist nicht gewillt, von ihrem Vorhaben zu lassen und lässt den Arzt und den Lehrer in der Scheune zurück.

Die nächste Szene spielt in Alfred Ills Laden. Die Ausstattung des Ladens wurde erneuert und lässt inzwischen Wohlstand vermuten. Frau Ill bedient die Kunden. Es wird sich über die Pressevertreter ausgetauscht, die sich im Anschluss an Claire Zachanassians Hochzeit nach wie vor in Güllen aufhalten und vereinzelt die Einwohner befragen. Auf Nachfrage gibt Frau Ill Auskunft darüber, dass ihr Mann sich bereits seit einigen Tagen in den Wohnräumen oberhalb des Geschäfts befinde. Es wird befürchtet, dass Alfred Ill seine Gegenspielerin Claire Zachanassian gegenüber den Pressevertretern in Verruf bringen und behaupten würde, dass diese ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt habe. Einer der Bürger Güllens beschließt daraufhin, vor dem Aufgang zu den Wohnräumen auf Position zu gehen.

Nachdem der Lehrer dazugekommen ist, suchen auch zwei Journalisten das Geschäft auf und beginnen, allen Anwesenden Fragen in Bezug auf Claire Zachanassian und Alfred Ill zu stellen. In der Zwischenzeit hat der Lehrer eine Menge Alkohol konsumiert und ergreift das Wort. Er gibt seine Absicht bekannt, die Wahrheit an die Öffentlichkeit bringen zu wollen. Die anwesenden Güllener versuchen den Lehrer von seiner Darstellung abzuhalten und gehen aus diesem Grund schließlich auf ihn los, bis plötzlich Alfred Ill erscheint, was alle dazu veranlasst, vom Lehrer abzulassen. Auch Ill verlangt vom Lehrer, nicht weiterzusprechen und sagt den Reportern, dass dieser betrunken sei. Beide bleiben im Geschäft zurück, wo Ill dem Lehrer erklärt, die Situation akzeptiert zu haben und nicht mehr gegen alles angehen zu wollen, da er für Claire Zachanassians Entwicklung verantwortlich sei. Daraufhin erläutert der Lehrer Alfred Ill, dass dieser umgebracht werden wird und dass er selbst merke, sich daran zu beteiligen und dementsprechend zum Täter zu werden. Gleichzeitig sei er sicher, dass auch Ills Mitmenschen in der Folge von einer Besucherin wie Claire Zachanassian aufgesucht würden und es ihnen dann nicht anders ergehen werde, als es Ill augenblicklich widerfährt.

Der Lehrer verlässt den Laden, dafür kehrt Ills Familie zurück. Auch diese hat unterdessen Neuanschaffungen getätigt und sich folglich verschuldet. Frau Ill führt aus, dass ihr Mann unnötigerweise panisch sei, da sie davon ausgehe, dass es eine Lösung für die Angelegenheit gebe, die Ill nicht das Leben kosten wird. Alfred Ill möchte, dass die Familie gemeinsam eine Fahrt in dem von seinem Sohn angeschafften Wagen unternimmt. Frau Ill und die beiden Kinder verlassen daraufhin das Geschäft.

Anschließend wird Ill vom Bürgermeister aufgesucht, welcher ihm ein geladenes Gewehr übergibt. Der Bürgermeister berichtet ihm von einer bevorstehenden Stadtversammlung, bei welcher gemeinschaftlich über Claire Zachanassians Angebot entschieden werden soll. Der Bürgermeister fragt, ob Ill bereit wäre, den Beschluss anzunehmen - auch falls dieser nicht zu seinen Gunsten ausfallen werde. Nach Aussage des Bürgermeisters werde sogar die Presse der Versammlung beiwohnen, aber nicht darüber informiert werden, was tatsächlich bei der Versammlung verhandelt werden wird. Alfred Ill spricht daraufhin aus, dass über sein Leben verhandelt werden wird.

Der Bürgermeister will der Presse vermitteln, dass Claire Zachanassian eine von Alfred Ill initiierte Stiftung ins Leben rufen wird. Daraufhin macht er Ill deutlich, dass dieser weiterhin alles für sich behalten müsse - ansonsten würde man alles ohne die Versammlung regeln. Alfred Ill sichert dem Bürgermeister sein Stillschweigen zu und gibt darüber hinaus an, den ausstehenden Versammlungsbeschluss in jedem Fall akzeptieren zu wollen. Der Bürgermeister legt ihm nahe, auf das Gewehr zurückzugreifen, damit die Versammlung gar nicht erst stattfinden müsse. Dabei appelliert er an Ills lokalpatriotisches Ehrgefühl. Ill lehnt es jedoch ab, sich selbst umzubringen. Er habe seine Angst aus eigener Kraft überwunden und würde das Urteil akzeptieren, aber seinen Mitmenschen nicht die Durchführung des Beschlusses abnehmen.

Nachdem der Bürgermeister gegangen ist, unternehmen Alfred Ill und seine Familie die geplante Ausfahrt mit dem neuen Wagen. Ill fordert seinen Sohn auf, nicht zu schnell zu fahren, um die Umgebung in Augenschein nehmen zu können. So kann er innerhalb der Stadt und im Umland Spuren von wirtschaftlichem Aufschwung ausmachen. Während Frau Ill und die Kinder weiterfahren, um später ins Kino zu gehen, hat Alfred Ill beschlossen, durch den Konradsweilerwald zurück in die Stadt und zur geplanten Versammlung zu gehen.

Die nächste Szene spielt im Konradsweilerwald. Claire Zachanassian lässt sich in Begleitung ihres neunten Mannes durch den Wald tragen. Sie registriert den auf einer Bank sitzenden Ill und berichtet ihm, dass sie die Besitzerin des Waldes sei. Sie stellt Ill ihren neuen Ehemann vor, den sie anschließend weggeschickt. Auf Ills Nachfrage hin schildert sie, Koby und Loby aus Güllen fortgeschickt zu haben, da diese den Mund nicht hätten halten können. Auch auf ihren Kammerdiener werde sie alsbald verzichten können. Claire Zachanassian und Ill rauchen zusammen. Er stellt ihr Fragen über ihr gemeinsames Kind. Außerdem berichtet er ihr von der bevorstehenden Versammlung. Er geht fest davon aus, zum Tode verurteilt und von irgendeinem Bewohner Güllens umgebracht zu werden. Claire Zachanassian erwidert, dass Ills Auslöschung ihr dazu diene, den erfahrenen Verrat und die Vergangenheit zu korrigieren. Sie hat die Absicht, seinen Leichnam in einem eigens errichteten Mausoleum im Park ihres Palazzos auf Capri zu bestatten, sodass er bei ihr bleibt. Claire Zachanassians Ehemann kehrt zurück und sie und Ill verabschieden sich voneinander. Alfred Ill bleibt alleine auf der Bank zurück.

Die Bühne wandelt sich. Schauplatz der Handlung ist jetzt der Theatersaal im »Goldenen Apostel«. Die Stadtbewohner finden sich ein. Sie sind allesamt neu und festlich eingekleidet. Darüber hinaus sind der Rundfunk und das Fernsehen vertreten. Ein Radioreporter beginnt, ins Mikrofon zu sprechen und seinen Hörern und Hörerinnen live von der Versammlung zu berichten. Nachdem er in die Situation eingeführt hat, begibt er sich mit dem Mikrofon zum Bürgermeister. Dieser verkündet, dass Claire Zachanassian gewillt sei, Güllen und seine Bewohner mit einer Milliarde zu beschenken. Der Reporter bezeichnet dies als großes Sozialexperiment.

Anschließend wird dem Lehrer vom Bürgermeister das Wort erteilt. Der Lehrer wendet sich an die Güllener und weist sie darauf hin, dass Claire Zachanassian im Gegenzug für die Milliarde Gerechtigkeit verlange sowie dass aus Güllen ein gerechter Ort werde. In diesem Zusammenhang stellt er den Güllenern die Frage, ob die Stadt bisher nicht gerecht gewesen wäre, was allgemein verneint wird. Der Lehrer manifestiert im Anschluss, dass die Güllener Gemeinde in der Vergangenheit Ungerechtigkeit toleriert habe. Er versichert, dass bei der Befürwortung von Claire Zachanassians Schenkung nicht der finanzielle Aspekt im Vordergrund stehe, sondern die Verwirklichung von Gerechtigkeit und abendländischen Prinzipien. Nach Aussage des Lehrers dürften die Güllener die Schenkung und die an sie geknüpfte Bedingung nur akzeptieren bzw. erfüllen, wenn sie das Böse und Ungerechtigkeit in der Welt nicht mehr ertragen können. Der Lehrer erntet für seine Worte tosenden Applaus.

Der Radioreporter lobt die Ansprache des Lehrers in moralischer Hinsicht. Dann wendet sich der Bürgermeister an Alfred Ill, welcher vom Polizisten dazu genötigt wird aufzustehen. Dies veranlasst den Radioreporter dazu, sich zu Ill zu begeben, um diesen ins Mikrofon sprechen zu lassen. Alfred Ill wird vom Bürgermeister gefragt, ob er die Entscheidung der Güllener Gemeinde in Bezug auf die Schenkung bzw. Stiftung annehme. Ill bejaht die Frage.

Bei der anschließenden Abstimmung heben alle bis auf Alfred Ill die Hand und sprechen sich somit dafür aus, die Stiftung anzunehmen. Der Bürgermeister und die Güllener Gemeinde sprechen im Wechsel und verkünden, dass die Stiftung einstimmig und allein der Gerechtigkeit wegen akzeptiert worden sei. Von Ill ist daraufhin ein Aufschrei zu hören.

Bei der Fernsehaufzeichnung hat es einen Fehler gegeben, weshalb die Abstimmung wiederholt wird. Der Kameramann bedauert, dass der von ihm als Freudenschrei interpretierte Aufschrei Ills nicht noch einmal erfolgt. Der Bürgermeister bittet die Medienvertreter zu einem Imbiss ins Restaurant. Für die Güllener Frauen wird überdies Tee im Garten bereitgestellt. Auf der Bühne bleiben somit die Männer Güllens zurück. Alfred Ill wird vom Polizisten davon abgehalten, ebenfalls zu gehen. Er solle dem Polizisten zufolge unverzüglich getötet werden. Auf Anweisung des Bürgermeisters wird der Theatersaal verriegelt und auch die Lichter werden gelöscht. Der Bürgermeister fordert die Anwesenden zusätzlich dazu auf, eine Gasse zu bilden. Hierauf wendet er sich an den Pfarrer, welcher sich zu Ill gesellt. Dieser verlangt eine Zigarette und rät dem Pfarrer, nicht für ihn, sondern für Güllen beten zu mögen. Auf Geheiß des Bürgermeisters betritt Ill schließlich die Gasse der Männer, die sich hinter ihm schließt. Die Menschengasse ballt sich geräuschlos. Als Journalisten in den Saal zurückkehren, wird es wieder hell. Die geballte Menschenmenge löst sich, so dass nur der vor Alfred Ills sterblichen Überresten kniende Arzt zurückbleibt. Dieser diagnostiziert, dass Ill an einem Herzschlag gestorben sei. Der Bürgermeister ergänzt, dass es sich um einen Freudentod handeln würde. Claire Zachanassian erscheint, gefolgt von ihrem Butler sowie Roby und Toby. Sie befiehlt letzteren beiden, Ills Leiche in den Sarg zu tragen, bevor sie bekannt gibt, nach Capri abzureisen. Der Bürgermeister erhält von ihr einen Scheck. Dann verlässt sie mit ihrem Butler den Saal.

Schauplatz der letzten Szene ist der Güllener Bahnhof. Dieser hat sich ebenso wie das gesamte Stadtbild im Zeichen des Wohlstandes und der Modernität gewandelt und ist festlich geschmückt. Güllens Bewohner tragen Abendgarderobe und bilden in Anlehnung an die griechische Tragödie zwei Chöre. Im Wechsel(gesang) wird gemeinschaftlich der Wandel Güllens von einer armen zu einer reichen, zufriedenen Gemeinde rekapituliert. Der Bahnhofsvorstand fordert zum Einsteigen in den D-Zug Güllen-Rom auf. Zwischen den beiden Chören erscheint die reglos auf ihrer Sänfte ausharrende Claire Zachanassian und entfernt sich unter den lobenden Worten der Güllener mit ihren üblichen Begleitern. Ihnen wird der Sarg hinterhergetragen.

Analyse

Nach Alfred Ills gescheitertem Fluchtversuch am Ende des zweiten Aktes steuert die Handlung im dritten Akt tragödientypisch zwangsläufig auf die Katastrophe zu: Die Güllener Gemeinde entscheidet sich gegen die Moral und für das Geld - schließlich sind inzwischen alle verschuldet. Folglich wird Alfred Ill gemeinschaftlich verurteilt und getötet. Gleichzeitig löst der Mord an ihm komödientypisch den Konflikt, denn die Güllener sehen sich am Schluss sowohl von dem Konflikt, als auch von ihrer Armut befreit und zeigen sich allesamt zufrieden: »Die einst graue Welt […] mündet in ein Welt-Happy-End ein.« (S. 131f.)

Dem Anhang lässt sich entnehmen, dass Dürrenmatt zufolge die erste Szene des dritten Aktes, in welcher Claire Zachanassian in der Peterschen Scheune vom Arzt sowie dem Lehrer aufgesucht wird, die entscheidende Wendung markiert. Beide bieten mit ihrem Geschäftsvorschlag eine Möglichkeit, von der alle Beteiligten profitieren würden, ohne dass jemand bzw. Alfred Ill dabei zu Schaden kommen muss (S. 89). Erst Claire Zachanassians darauffolgende Enthüllung, die ganze Industrie Güllens bzw. den gesamten Ort bereits zu besitzen und absichtlich lahmgelegt zu haben offenbart, dass die Milliardärin dafür gesorgt hat, die Bewohner in der Hand zu haben, damit diese ihrem Vorhaben ausgeliefert sind. Von da an gilt folgendes: »Das Verhängnis ist nicht mehr zu umgehen. Von nun an bereiten sich die Güllener allmählich auf die Ermordung vor, entrüsten sich über Ills Schuld usw. […]. Nur die Familie redet sich bis zum Schlusse ein, es komme noch alles gut, auch sie ist nicht böse, nur schwach wie alle.« (S. 143f.)

Claire Zachanassian hat ihre Rache von langer Hand her geplant und viel Geld investiert, um sicherzugehen, dass nicht nur Ill, sondern auch die Güllener bestraft werden. Dass ihre Rache bewusst auch die restlichen Bewohner Güllens treffen soll, wird an folgender Stelle deutlich: »Es war Winter, einst, als ich dieses Städtchen verließ, […], hochschwanger, Einwohner grinsten mir nach. Frierend saß ich im D-Zug nach Hamburg, doch […] beschloß ich zurückzukommen, einmal. […] Nun stelle ich die Bedingungen, diktiere das Geschäft […]« (S. 90). Der Versuch des Lehrers, an ihre Menschlichkeit zu appellieren beeindruckt die Besucherin wenig, da sie lediglich einem Moralkodex folgt: »Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle.« (S. 91) Sie erpresst die Güllener Gemeinde; diese soll sich schuldig machen: »Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.« (ebd.)

Die darauffolgende Szene in Alfred Ills Geschäft bringt den Stimmungswandel innerhalb Güllens zum Ausdruck. Das Kollektiv der Bewohner bekennt sich plötzlich ganz offen zur Besucherin und gegen Ill. Da die Öffentlichkeit unter keinen Umständen von der Angelegenheit erfahren soll, ist man auch bereit, Ill mundtot zu machen. Tatsachen werden als Lügen dargestellt: »Wenn er Klara bloßstellen will, Lügen erzählen, sie hätte was auf seinen Tod geboten oder so, was doch nur ein Ausdruck des namenlosen Leids gewesen ist, müssen wir einschreiten.« (S. 93) Dabei wird betont, dass alle nicht des Geldes wegen so eindeutig Stellung beziehen würden, sondern allein aufgrund des Unrechts, welches Claire Zachanassian erfahren hätte: »Aus Volkszorn. Die brave Frau Zachanassian hat, weiß Gott, genug seinetwegen durchgemacht.« (ebd.)

Ganz nach der Redensart Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit ist es der alkoholisierte Lehrer, der nicht an sich halten kann: »Ich will die Wahrheit verkünden, auch wenn unsere Armut ewig währen sollte!« (S. 98). Dass ihn ausgerechnet Alfred Ill davon abhält, verdeutlicht, dass auch dieser eine Wandlung bzw. Entwicklung durchgemacht hat. Nach Aussage seiner Frau hat er sich mehrere Tage lang zurückgezogen (S. 93). Er ist in sich gegangen und hat sich zu seinem Fehlverhalten, seiner Schuld bekannt und ist jetzt bereit für diese Verantwortung zu übernehmen: »Ich habe Klara zu dem gemacht, was sie ist […]. Was soll ich tun, Lehrer von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und euch auch nicht mehr.« (S. 102f.) Der Autor führt im Anhang aus: »Ist Claire Zachanassian […] eine Heldin, von Anfang an, wird ihr alter Geliebter erst zum Helden. […] [A]n sich erlebt er die Gerechtigkeit, weil er seine Schuld erkennt, er wird groß durch sein Sterben […].« (S. 143)

Laut Ulrich Weber ist es Alfred Ill »[…] der sich seiner Schuld stellt und dem grotesken Geschehen ansatzweise eine tragische Dimension verleiht.« (Weber, S. 112) Während Ill sich als Einzelner seiner Schuld und Verantwortung stellt und dadurch zu dem wird, was Dürrenmatt als »mutiger Mensch« definiert, sind die übrigen Güllener erst im Begriff sich - nicht als Einzelpersonen, wohl aber als Kollektiv - schuldig zu machen. Dem Lehrer ist dies bewusst, ebenso wie der Umstand, dass die wohlweislich auf sich geladene Schuld die Güllener eines Tages ebenso einholen kann, wie sie Alfred Ill eingeholt hat: »Sie haben recht. Vollkommen. Sie sind schuld an allem. […] Man wird sie töten. Die Versuchung ist zu groß und unsere Armut zu bitter. […] Noch weiß ich, daß auch zu uns einmal eine alte Dame kommen wird […] und daß dann mit uns geschehen wird, was nun mit Ihnen geschieht […].« (S. 103)

Heuchlerisch ist dagegen der Bürgermeister, der Ill in seinem Laden aufsucht und zum Suizid ermutigen will (S. 105f.). Ungeniert behauptet er, dass die Güllener Gemeinde sich Ill gegenüber rechtschaffen verhalten würde, indem sie ihm gemeinschaftlich den Prozess machen würden. Dass die Presse und damit die Öffentlichkeit nicht darüber informiert wird, dass bei der Versammlung nicht allein über die Annahme einer Stiftung, sondern vielmehr über das Leben bzw. den Tod eines Menschen abgestimmt wird, verkauft der Bürgermeister Ill als Gefälligkeit gegenüber dessen Familie (S. 107). Der Bürgermeister sieht Alfred Ill in der Pflicht, sich seinen Mitmenschen zuliebe selbst zu richten: »Es wäre doch nun eigentlich Ihre Pflicht, mit Ihrem Leben Schluss zu machen […] Schon aus Gemeinschaftsgefühl, aus Liebe zur Vaterstadt. […]« (S. 108).

Alfred Ill lehnt es ab, der Rechtschaffenheit lediglich heuchelnden Güllener Gemeinde durch seinen Suizid dazu zu verhelfen, in den Genuss des Wohlstands zu kommen, ohne sich dabei schuldig zu machen. Die Güllener sollen entscheiden, ob sie Wohlstand auf Ills Kosten - auf Kosten eines Menschenlebens - wollen: »Ihr müßt nun meine Richter sein. Ich unterwerfe mich eurem Urteil, wie es nun auch ausfalle. Für mich ist es die Gerechtigkeit, was es für euch ist, weiß ich nicht. Gott gebe, daß ihr vor eurem Urteil besteht. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht, protestiere nicht, wehre mich nicht, aber euer Handeln kann ich euch nicht abnehmen.« (S. 109)

Die Verhandlung wird aufgrund der Anwesenheit von Funk und Fernsehen zum Medienereignis. Folglich wird Alfred Ill vor aller Augen zum Tode verurteilt. Die Öffentlichkeit bietet ihm keinen Schutz. Die Bewohner Güllens haben alles daran gesetzt, nach außen den Schein zu wahren und den Medienvertretern eine offizielle und medienwirksame Version des Geschehens präsentiert. Ills Verurteilung und Ermordung erfolgt inoffiziell. Alles ist reine Show und Inszenierung: Die Güllener betrügen die Öffentlichkeit und letztlich auch sich selbst. Unter dem Vorwand, Gerechtigkeit walten zu lassen, handeln die Güllener allein aus Eigennutz und Geldgier und machen sich als Kollektiv des Mordes schuldig. Claire Zachanassian hat damit recht behalten: Man kann alles kaufen - auch die Gerechtigkeit. Die Güllener Gemeinde hat Claire Zachanassians verfälschten Gerechtigkeitsbegriff übernommen. Gerechtigkeit ist zu dem geworden, was Claire Zachanassian darunter versteht: »Sie will für ihre Milliarde Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit.« (S. 121)

Abermals wird betont, dass es niemandem um das Geld, sondern allen allein um die Durchsetzung von hohen Idealen und Werten gehen würde (S. 121). Wieder zeigt sich, dass diese als hohle Phrasen sinnentleert, bzw. falsch ausgelegt und dadurch missbraucht werden können. Entsprechend missinterpretiert auch der Radioreporter die Rede des Lehrers: »Die Rede des Rektors bewies eine sittliche Größe, wie wir sie heute - leider – nicht mehr allzu oft finden. Mutig wurde auf Mißstände allgemeiner Art hingewiesen, auf Ungerechtigkeiten, wie sie ja in jeder Gemeinde vorkommen, überall, wo Menschen sind.« (S. 122) Wahrhaftig und authentisch ist nur Ills Aufschrei, der sich aus diesem Grund auch nicht wiederholen lässt (S. 125f.). Der Lynchmord an Alfred Ill wird vom Bürgermeister PR-tauglich als »Tod aus Freude« (S. 130) verkauft.

Die letzte Szene des Stückes spielt wie die erste am Bahnhof. Hier erfolgt wieder ein Bezug zur antiken griechischen Tragödie: Alfred Ill ist tot und die Güllener Gemeinde verfällt in an Sophokles angelehnten, feierlichen Chorgesang. Von Reue oder Bedauern fehlt jede Spur. Stattdessen wird ein Loblied auf den nun herrschenden materiellen Wohlstand gesungen, während die »Wohltäterin« (S. 134) Claire Zachanassian mit Ills Leichnam im Gepäck abreist: »Teures führt sie mit sich, ihr Anvertrautes.« (ebd.) Sorgen macht man sich nur darüber, dass der Wohlstand wieder verschwinden könnte: »Bewahre die heiligen Güter uns, […] Damit wird das Glück glücklich genießen.« (ebd.)

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.