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Der Besuch der alten Dame

1. Akt

Zusammenfassung

Die Handlung des ersten Aktes beginnt auf dem Bahnhof von Güllen, einer imaginären kleinen Provinzstadt, welche sich irgendwo innerhalb Europas befindet. Ganz Güllen ist offensichtlich extrem verarmt, heruntergekommen und strukturschwach. Den gleichen Eindruck erwecken auch vier auf einer Bank ausharrenden Männer - Bürger der Stadt - welche den an Güllen vorbeifahrenden Schnellzügen zusehen und sich über den scheinbar unbegründeten Verfall ihrer ehemals relevanten sowie wohlhabenden Heimatstadt auslassen. Derweil wird von einem ebenso heruntergekommenen Maler ein Banner mit einem Willkommensgruß angefertigt. Ein Pfändungsbeamter erscheint, um den gesamten Ort zu pfänden. Der Güllener Bürgermeister, der Lehrer und der Pfarrer des Ortes sowie der Krämer Alfred Ill haben sich in ihrer ärmlichen Garderobe der Szene angeschlossen.

Hoffnung in Anbetracht der aussichtslosen Lage der Kleinstadt bietet ausschließlich, dass die Milliardärin Claire Zachanassian erwartet wird. Diese ist als geborene Klara Wäscher in Güllen aufgewachsen. Nun setzen die Einwohner auf ihre finanzielle Unterstützung. Aus diesem Grund sind die Ankunft und der Empfang der berühmten Milliardärin sorgfältig sowie detailreich geplant worden – Stadt und Bewohner sollen ihr bestmöglich präsentiert werden. Eine besondere Rolle wird in diesem Zusammenhang dem allgemein geschätzten Alfred Ill zugedacht, der als Claire Zachanassians ehemaliger Jugendfreund nach 45 Jahren Einfluss zugunsten der Stadt auf sie ausüben soll.

Sämtliche Pläne der beteiligten Personen werden von Claire Zachanassian durchkreuzt, als die Zweiundsechzigjährige wider Erwarten zu früh und in einem übertrieben üppigen Aufzug auf dem Güllener Bahnhof erscheint, nachdem sie mithilfe der Notbremse einen normalerweise die Stadt lediglich passierenden Schnellzug zum Halten gezwungen hat. Angereist ist sie in Begleitung ihres Butlers Boby sowie ihres siebten Ehemannes Moby. Nach anfänglicher Aufregung unter den Güllener Einwohnern angesichts des verpatzten Empfangs der Milliardärin wird verfolgt, wie die Besucherin den anfänglich verärgerten Zugführer mit einer größeren Summe abfertigt. Im Anschluss ergreift der Bürgermeister im Namen der Stadt das Wort um den hohen Gast zu begrüßen, wobei seine Ansprache vom abfahrenden Schnellzug übertönt wird.

Dann begrüßen Alfred Ill und Frau Zachanassian einander, erinnern sich an gemeinsam verbrachte, vergangene Zeiten und rufen sich ihre ehemaligen Kosenamen ins Gedächtnis. Nachdem die Milliardärin Alfred Ill ihren Ehemann vorgestellt hat, verkündet sie, Güllen besichtigen zu wollen. Allerdings wird sie sowohl von einer Chordarbietung unter Leitung des Güllener Lehrers sowie von dem sich ihr vorstellenden Polizeiwachtmeister Hahncke aufgehalten. Daraufhin lernt Claire Zachanassian die Enkelinnen des Bürgermeisters kennen und wird anschließend neben dem Güllener Pfarrer auch Doktor Nüßlin, dem Arzt der Stadt, vorgestellt. Letzteren stellt sie befremdliche Fragen. Schließlich setzt sich die Besucherin mittels ihrer von den beiden hünenhaften Straftätern Roby und Toby getragenen Sänfte in Bewegung. Bevor Frau Zachanassian die Stadt wiedersehen will, verlangt sie, gemeinsam mit Alfred Ill die Orte zu besuchen, welche sie auch im Verlauf ihres damaligen Verhältnisses gemeinsam aufgesucht hätten.

Auf ein Zeichen des Bürgermeisters bricht die Menge in Jubel aus, bis ein Sarg, der von zwei Männern auf Geheiß der Milliardärin Richtung Güllen getragen wird, die Einwohner der Kleinstadt aus dem Konzept bringt. Alles folgt dem Sarg, mitsamt dem umfangreichen Gepäck der Besucherin. Der Polizist trifft auf zwei ihn irritierende Unbekannte, die sich Koby und Loby nennen und behaupten, zum Gefolge von Claire Zachanassian zu gehören. Sie verkünden ihm, dass sie blind seien und ihre Identität sich bald aufklären werde. Er schließt sich mit beiden der Menge an.

Schauplatz der Handlung ist jetzt die Güllener Gastwirtschaft »Goldener Apostel«. Alles ehemals opulente innerhalb des Gebäudes ist inzwischen wie der gesamte Ort ausgesprochen heruntergekommen. Der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer kommentieren schnapstrinkend Claire Zachanassians Ankunft und ihre zahlreichen Habseligkeiten, zu denen auch ein schwarzer Panther im Käfig gehört. Der Polizist berichtet den Dreien von der für ihn augenfälligen Vertrautheit zwischen der Besucherin und Alfred Ill, woraufhin auf ebendiesen angestoßen wird.

Das Geschehen wird im Konradsweilerwald fortgesetzt, wobei dieser von den vier Bürgern der Stadt atmosphärisch dargestellt wird. Claire Zachanassian und Alfred Ill rekapitulieren in Anbetracht ihrer gemeinsamen Vergangenheit ihre jeweiligen Werdegänge. Die Milliardärin führt aus, dass Alfred Ill dank seiner Heirat zu seinem ansässigen Geschäft gekommen ist, während sie selbst von ihrem ersten, vermögenden Ehemann in einem Bordell aufgefunden worden wäre. Alfred Ill legt seine inzwischen problematisch gewordenen Lebensumstände dar und Claire Zachanassian sichert in diesem Zuge ihre finanzielle Hilfe zu.

Alfred Ill und Claire Zachanassian sitzen nach wie vor auf einer Bank, während um sie herum wieder der »Goldene Apostel« zum Schauplatz der Handlung wird. Die Bewohner Güllens finden sich zum gemeinsamen Festessen ein. Nachdem die Milliardärin verkündet hat, sich von ihrem siebten Mann scheiden lassen zu wollen, hält der Bürgermeister zu Ehren der Besucherin eine schmeichelhafte Rede, in welcher er unter anderem auf ihre Wohltätigkeit anspielt. Im Anschluss ergreift Frau Zachanassian das Wort und macht deutlich, dass sie gewillt ist, der Stadt eine Milliarde zur Verfügung zu stellen, solange im Gegenzug ihre Bedingung erfüllt wird. Sie will Gerechtigkeit für ihr Geld.

Ihr Butler Boby tritt auf den Plan und gibt sich als ehemaliger Güllener Oberrichter Hofer zu erkennen. Er erläutert, dass Claire Zachanassian für die Summe von einer Milliarde die Wiedergutmachung des ihr in Güllen widerfahrenen Unrechts verlangt. In seiner Funktion als Oberrichter hätte Boby im Jahr 1910 eine Vaterschaftsklage verhandelt, bei welcher Claire Zachanassian als damalige Klara Wäscher Alfred Ill als Vater ihres Kindes habe verantwortlich machen wollen, woraufhin dieser die Vaterschaft abgestritten hätte. Koby und Loby stellen sich als die zwei Zeugen Jakob Hühnlein und Jakob Sparr heraus, die Alfred damals zu seiner Absicherung bei der Verhandlung vorgebracht hatte. Beide beteuern, von Alfred bestochen worden zu sein, vor Gericht falsch auszusagen, woraufhin zugunsten von Alfred geurteilt worden wäre. Claire Zachanassian hätte die beiden falschen Zeugen später suchen und von Toby und Roby blenden und kastrieren lassen. Das Kind wäre bereits im Alter von einem Jahr verstorben, während Claire Zachanassian sich in Folge des Fehlurteils hätte prostituieren müssen.

Im Anschluss an die Darlegung der Vorgeschichte verkündet die Besucherin ihre Bedingung: Sie bietet eine Milliarde für die Tötung von Alfred Ill. Ihr Angebot wird vom Bürgermeister im Namen der Stadt entschieden und unter allgemeinem Beifall abgelehnt, woraufhin Frau Zachanassian erwidert, zu warten.

Analyse

Als Handlungsschauplatz wird eine durchschnittliche, aber insolvente Kleinstadt eingeführt. Güllen als Zentrum der Handlung wird keinerlei individueller Charakter zugestanden und kann sich ausdrücklich überall in Europa befinden (S. 13/14). Aufgrund dieses Mangels an Individualität lässt sich das Geschehen universell auf jeden Ort anwenden. Unterstützt wird dieser Effekt durch die ebenso austauschbaren eingeführten Bewohner von Güllen als größtenteils lediglich typisierte, namenlose Figuren. Diese Typisierung lässt die Einwohner Güllens zu einem Kollektiv verschmelzen. Alles sehnt sich nach Wohlstand und man ist sich einig darüber, dass nur und ausschließlich Claire Zachanassian das Schicksal der Stadt zum Besseren wenden kann: »Meine Herren, die Milliardärin ist unsere einzige Hoffnung.« (S. 18)

Im Fokus steht Alfred Ill, der Claire Zachanassian, bzw. Klara Wäscher, früher nahe gestanden hat und deswegen als ausschlaggebender Faktor für das Zustandekommen der Finanzspritze angesehen wird: »Sie waren mit ihr befreundet, Ill, da hängt alles von ihnen ab.« (ebd.) An dieser Stelle wird bereits angedeutet, dass die finanzielle Unterstützung der Besucherin in der Tat allein von Alfred Ill bzw. seinem Ableben abhängig ist. Noch wird er aber als »beliebteste Persönlichkeit in Güllen« (S. 20) dargestellt und soll sogar der nächste Bürgermeister werden, was zum Ausdruck bringt, dass niemand davor sicher ist, von der Gemeinschaft fallen gelassen zu werden, solange der Anreiz groß genug ist. Alfred Ill ist allerdings auch nicht als sympathische oder moralisch einwandfreie Figur angelegt, schließlich scheint er zunächst in Hinblick auf seine Verleugnung der Vaterschaft keinerlei Reue oder Schuldbewusstsein zu empfinden: »Verjährt, alles verjährt! Eine alte, verrückte Geschichte.« (S. 48)

Darüber hinaus verpackt er es Claire Zachanassian gegenüber als selbstlose Geste, nicht sie, sondern »Mathilde Blumhard […] mit ihrem Kleinwarenladen« (S. 37) geheiratet zu haben: »[…] Ich wollte dein Glück. Da musste ich auf das meine verzichten.« (ebd.) Dürrenmatt selbst lässt im Anhang keinen Zweifel daran, dass es sich bei Alfred Ill keinesfalls um den »unschuldig schuldig« gewordenen, ehrenwerten Helden der antiken griechischen Tragödie handelt: »Ein verschmierter Krämer, […]; schuldig ist er der Meinung, das Leben hätte von selber alle Schuld getilgt; ein gedankenloses Mannsbild […].« (S. 143)

Der erste Akt der tragischen Komödie ist eindeutig von komischen Elementen geprägt - beispielsweise wenn der Chor unter Leitung des Lehrers versucht, gegen einen vorbeifahrenden Zug anzusingen (S. 28) - allerdings »[…] mischen sich in die unbeschwerte Komik jedoch immer mehr befremdende […] Elemente […].« (Marquart, S. 123) Unmittelbar vor der Ankunft von Claire Zachanassian mahnt Alfred Ill noch zur Vorsicht, da bereits ein »mißglückter Empfang am Bahnhof« dazu führe, dass »alles verteufeln« könne (S. 20).

Tatsächlich missglückt der geplante Empfang, da die Besucherin zu früh erscheint und so ist daraufhin alles »verteufelt«, schließlich ist die Milliardärin wie sie selbst sagt der Teufel bzw. »die Hölle geworden« (S. 38). Alfred Ill aber ist sich seiner Sache schnell sehr gewiss: »Sehen Sie, […], die habe ich im Sack.« (S. 25). Er ist ab diesem Punkt völlig blind für die Absicht der Besucherin, die an ihm Vergeltung üben will, und lacht arglos über ihre bedrohlichen Andeutungen, die er als »Witze« (S. 30) versteht. Unbestreitbar »[…] lässt Dürrenmatt die alte Dame im ersten Akt zahlreiche mehrdeutige Bemerkungen machen, die zunächst humorvoll klingen, die jedoch nach Bekanntgabe der dahinter stehenden wahren Absichten der Milliardärin in ihrer Bedeutung […] revidiert werden müssen […].« (Marquart, S. 121) Ebenso wird erst durch ihre Ankündigung die Bedeutung des von ihr mitgeführten Sarges (S. 31) oder des schwarzen Panthers im Käfig (S. 33) deutlich.

Anders ergeht es beispielsweise dem Lehrer, der als Personifizierung humanistischer Bildung die Milliardärin schnell entlarvt: »[…] was Gruseln heißt, […], weiß ich erst seit einer Stunde. Schauerlich, wie sie aus dem Zuge stieg, die alte Dame mit ihren schwarzen Gewändern. Kommt mir vor […] wie eine griechische Schicksalsgöttin.« (S. 34) Wie das Schicksal oder die Götter in der griechischen Tragödie ist die Besucherin verantwortlich für den Konflikt, dem sich die Bewohner von Güllen ausgesetzt sehen. Als grausame Verkörperung des Schicksals bedeutet sie für Alfred Ill den Tod; die restlichen Güllener macht sie dadurch zu Mördern. Claire Zachanassian, »[…] nimmt als Spieler- oder Planerfigur die Fäden des Geschehens in die Hand, um eine persönliche Ungerechtigkeit wieder gut zu machen.

Nicht sie selbst rächt sich an Alfred Ill, der sie verraten und ins Unglück geführt hat, sondern sie unternimmt die Rache indirekt, über ihr Wissen um die Zusammenhänge der Stadt und deren Bürger.« (Famula, S. 201f.) Das kann sie sich leisten, denn sie verfügt über eine Menge Geld, das ihr die nötige Macht verleiht. Die Besucherin verkörpert folglich eine grenzenlose, geradezu göttliche Macht des Geldes. Claire Zachanassian ist - wie Dürrenmatt im Anhang erläutert - allein »[…] durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, […].« (S. 142)

Die Milliardärin vertritt lediglich einen Grundsatz, welcher lautet: »Man kann alles kaufen.« (S. 45) Nach ihrer Logik funktioniert die Welt so, dass alles käuflich ist und will sie Gerechtigkeit – bzw. das, was sie darunter versteht – dann erkauft sie sich diese einfach. Claire Zachanassian ist sich absolut sicher, dass Geld und Wohlstand grundsätzlich schwerer wiegen als alles andere, auch als Werte wie Moral und Humanität. Deswegen lässt sie sich auch nicht davon beirren, dass der Bürgermeister ihr Angebot »[i]m Namen der Menschlichkeit« (S. 50) ausschlägt.

Sie ist davon überzeugt, dass die Güllener früher oder später von ihrem grausamen Angebot bzw. vom Geld verführt werden und sie einfach nur darauf warten müsse. Wie empfänglich die Güllener wirklich für ihr Angebot sind, wird schon im ersten Akt an der Stelle deutlich, wo die Menge freimütig bereit ist, Claire Zachanassian auf ihrer Sänfte in die Stadt zu folgen. Tatsächlich besagt der Text, dass alle sich ausdrücklich dem mitgeführten Sarg anschließen (S. 31). Hier wird bereits angedeutet, dass alle gewillt sind, Alfred Ills Tod bzw. Ermordung in Kauf zu nehmen, solange sie von diesem finanziell profitieren.

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.