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Der Besuch der alten Dame

Interpretation

Wirtschafts- bzw. kapitalismuskritischer Bezug

In »Der Besuch der alten Dame« wird eindeutig kritisch auf Politik, Gesellschaft und Ökonomie des Westens Mitte des 20. Jahrhunderts Bezug genommen. Im Fokus stehen ein unmoralisches Angebot und die Verführungskraft des Kapitals. Schließlich werden Moral und Humanität zugunsten von Wirtschaftsaufschwung und des Geldsegens geopfert. Die Parabel über die Wahl zwischen Geld und Moral ist zeitlos und lässt Dürrenmatts Drama nach wie vor aktuell erscheinen.

Der ursprüngliche Untertitel des Dramas, »Komödie der Hochkonjunktur«, lässt einen eindeutigen wirtschafts- bzw. kapitalismuskritischen Bezug herstellen. Selbst die Gerechtigkeit als Gut ist keiner humanen, sondern allein der marktwirtschaftlichen Ordnung unterstellt. Zweifellos bringt Claire Zachanassian zum Ausdruck, wie grausam und willkürlich Geld und Wirtschaft die bürgerliche Gemeinschaft beherrschen und in die Knie zwingen können. Nichts und niemand, weder Moral, noch Menschlichkeit oder Institution kann sich der Geldmacht der Besucherin in den Weg stellen. Es stellt sich die Frage, ob Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstand zwangsläufig mit dem Verlust von Moral und Anstand einhergehen.

Moral und Humanität

Die Güllener stellen das Gemeinwohl über das Schicksal des Einzelnen. Aber bei wem liegt die Verantwortung? Immer wieder wird im Stück von den Güllener Autoritäten betont, dass der Handlungsschauplatz Güllen eine Stadt ist, die sich den rechtsstaatlichen, moralischen Werten und den Prinzipien der Kultur und der Humanität verschrieben hat. Diese hohen Ideale entpuppen sich im Verlauf der Handlung immer mehr als hohle Phrasen. 

Auch bei Alfred Ills Verurteilung beruft sich der Lehrer auf humanistische Ideale und Werte der Gemeinde: »[…] es geht darum, ob wir Gerechtigkeit verwirklichen wollen, und nicht nur sie, sondern auch all die Ideale, für die unsere Altvorderen gelebt und gestritten hatten und für die sie gestorben sind, die den Wert unseres Abendlandes ausmachen!« (Der Lehrer, S. 121). Es wird verdeutlicht, dass auch humanistische Ideale und moralische Prinzipien missbraucht und ins Negative verkehrt werden können, solange diese als reine Floskeln dienen. 

Gunter E. Grimm führt aus: »Die auf Wohlstand erpichten Güllener können zwar Claires Racheaktion in die Tat umsetzen, sie aber als Ausdruck sittlicher Gerechtigkeit zu legitimieren, diese ›Leistung‹ ist Sache der Intellektuellen: Sie erst machen aus Recht Unrecht und aus Unrecht Recht. Die eigentliche Korruption der Gesellschaft manifestiert sich daher letzten Endes im willkürlichen, aber zielbewussten Umbiegen geltender Normen, in der Käuflichkeit sogar der ›Gerechtigkeit‹.« (Kindler Kompakt Schweizer Literatur, S. 133)

Macht des Geldes und Machtmissbrauch

Das Stück vermittelt vor allem eines: Geld ist Macht. Und Geld ist unwiderstehlich. Claire Zachanassian erscheint aufgrund ihres Reichtums geradezu allmächtig. Sie ist die »reichste Frau der Welt« (S. 142) und möchte Rache. Da sie ungestraft Selbstjustiz an Alfred Ills beiden falschen Zeugen (Koby und Loby) üben kann, scheint sie sogar über dem Gesetz zu stehen.

Nichts und niemand, weder Moral, noch Menschlichkeit oder Institution kann im Stück ihrem Geld widerstehen. Claire Zachanassian ist sich darüber wohl bewusst und setzt ihr Vermögen gewissenlos für ihre Zwecke ein. Die Figur der Claire Zachanassian kann demnach durchaus als Verkörperung des allmächtigen Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft gedeutet werden.

Veröffentlicht am 24. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. März 2023.