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Hamlet

Interpretation

Politische Hintergründe und Leitthemen

Obwohl »Hamlet« auf dänischem Boden spielt, kann seine Lage auf das England von 1600 bezogen werden. Religiöse Differenzen zwischen der anglikanischen Kirche und den katholischen Mächten Europas hatten zu Angriffen und Kriegen geführt (Timm, 79). Zu Beginn äußert der Offizier Marcellus seine Sorgen über die Waffenproduktion. Der Konflikt mit Norwegen ist spürbar. Umso erleichterter ist Claudius, als sich dieser schlichtet und Fortinbras stattdessen nach Polen zieht. Kriege und Herrschaftsansprüche prägen somit auch die Dramenhandlung. Letztendlich ist es Fortinbras’ Feldzug, der Hamlets finale Entscheidung zur Rache an seinem Onkel bestimmt: »Beispiele, die zu greifen, mahnen mich« (87).

England steht in voller Blüte, als sich die Regentschaft von Königin Elisabeth dem Ende neigt. Wie geht es weiter? Fragen durchziehen auch Shakespeares Sprache. Insbesondere Hamlet stellt sich diese in seinen Monologen und philosophiert so über das Leben. Viele von ihnen bleiben unbeantwortet, kreieren somit jedoch einen intellektuellen und gleichzeitig unsicheren Protagonisten. Auch Dialoge werden durch Fragen vorangetrieben, etwa im Gespräch zwischen Hamlet und Gertrude, Akt 3, Szene 4, mit Hamlets wiederkehrender Frage: »Habt Ihr Augen?« (75) sowie der Frage der Königin: »welche Tat/ Brüllt denn so laut und donnert im Verkünden?« (75).

Überwachung und Spionage sorgen für politische Machtdemonstration und Intrigen. Die Figur des Polonius, der durch das Belauschen von Privatgesprächen an Informationen gelangt und seinen eigenen Sohn im Ausland beobachten lässt, soll eine Anlehnung an den höchsten Staatsbeamten unter Elisabeth I. sein. Dieser habe sich mit einem komplexen Spionagesystem Informationen über Freunde wie Feinde beschafft (Timm, 79). Auch König Claudius bedient sich dieser Mittel. Allerdings lässt er dafür extra Rosenkranz und Güldenstern anreisen, die Hamlets Wesen ergründen sollen. Des Weiteren lässt sein Verhalten außerhalb seiner regierenden Pflichten zu wünschen übrig: Rauschende Feste und Trunkenheit lassen den Staat in Verruf geraten (vgl. 22). Jedoch ist dies nichts im Vergleich zu der Intrige, mit welcher er die Krone gewann. »Etwas ist faul im Staate Dänemarks« (24) bemerkt auch Marcellus. Hamlet erscheint das Land wie ein Gefängnis (vgl. 42). 

Hamlet und Claudius agieren als Gegenspieler. Mit seiner Aussage: »Dies bin ich, Hamlet der Däne« (109) bekennt er sich im letzten Akt als Anwärter auf den Thron, den er mit seiner Bereitschaft zur Rache verteidigen wird. Erst im Sterben gelingt es ihm, diese zu vollziehen. Hamlet ernennt Fortinbras als Thronfolger. Dieser soll nach einer Reihe von Intrigen und Morden die politische Stabilität und Ordnung im Land wiederherstellen. Ordnung ist ein Wert, an dem sich auch das Elisabethanische Zeitalter orientierte (Neubauer und Böck, 53).

Wahnsinn und Ödipus-Komplex

Das Drama wird von Hamlets Charakterzügen, Gedanken und Handlungen dominiert. Ein entscheidender dieser Züge ist sein Wahnsinn. Ob dieser bewusst gewählt wurde oder er ihm im Inneren ausgeliefert ist, lässt sich diskutieren. Für die vorgegebene Täuschung spricht seine Bemerkung nach der Unterredung mit dem Geist seines Vaters: »Da mir’s vielleicht in Zukunft dienlich scheint, Ein wunderliches Wesen anzulegen« (30). Mit einem vorgetäuschten Wahnsinn will er seine eigentlichen Absichten verdecken und sich Zeit verschaffen, um die Worte des Geistes zu prüfen und sein weiteres Vorgehen zu planen. Er dient ihm somit als Schutz. In Bezug auf Ophelia wird sein Handeln jedoch fraglich. Ist sein Erscheinen in zerrissenen Kleidern und mit kummervollen Augen (vgl. 33) nur Inszenierung? Seine Geste, in der er ihre Hand hält und ihr lange nachblickt, könnte wie ein Abschied verstanden werden. Bei darauffolgenden Begegnungen fordert er sie jedoch auf, in ein Kloster zu gehen und beschimpft sie sogar während des Theaterspiels. Nach ihrem Tod ist er tief erschüttert und gesteht seine Liebe zu ihr: »Ich liebt’ Ophelien« (110).

Doch nicht nur sein stark variierendes Verhalten Ophelia gegenüber lässt ihn instabil wirken. In Monologen offenbart Hamlet Gram, Seelenleid und Todessehnsüchte. Er hadert mit dem Auftrag, der ihm vom Geist erteilt wurde, und verliert sich in grüblerischen Fragen über das Leben, auf die er keine Antwort findet. In Gesellschaft der Schauspieler zeigt er sich jedoch lebhaft. Auch die Aufdeckung von Claudius’ Schuld verleiht ihm neuen Elan: »O lieber Horatio, ich wette Tausende auf das Wort des Geistes. [...] Ha ha!« (67). Diese Stimmungsschwankungen veranlassen Interpreten zu Theorien wie krankhafter Melancholie oder manischer Depression (Neubauer und Böck, 46).

Im letzten Akt ist von Hamlets Wahnsinn allerdings nicht mehr viel zu spüren. Die Deckung ist nicht länger nötig. Hamlet hat sich für seinen Vater und sein Land entschieden, das er verteidigen will. Auch vor Claudius muss er keine Rolle mehr spielen, denn dieser weiß, wie es um sein Leben steht. Handelte es sich um tatsächlichen Wahnsinn, tritt dieser hier zumindest in den Hintergrund. Eine andere Deutungsmöglichkeit wäre, dass er durch Hamlets inneren Prozess verarbeitet wurde, in dessen Verlauf er sich zur Rache entschieden hat und sich außerdem im Anblick der toten Ophelia seiner Liebe zu ihr bewusst wird.

Ob simuliert oder real, Hamlet zeigt auch unabhängig vom Wahnsinn besorgniserregende Verhaltensmuster. Seine überschäumenden Emotionen münden in einer beschimpfenden Tirade gegen seine Mutter, in der blinden und kaltblütigen Ermodrdung Polonius’ oder der Auslieferung seiner Studienkollegen Rosenkranz und Güldenstern, die ihm kein schlechtes Gewissen zu bereiten scheint: »Sie rühren mein Gewissen nicht: ihr Fall/ Entspringt aus ihrer eignen Einmischung« (112).

Nicht nur die Trauer um seinen verstorbenen Vater, sondern besonders auch der Abscheu gegenüber seiner Mutter, die so kurz darauf seinen Onkel geheiratet hat, quälen ihn. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud baut darauf seine Theorie zu Hamlets Ödipus-Komplex. Dieser beruht auf einer griechischen Sage, in der Ödipus unwissentlich seinen Vater ermordet und seine Mutter heiratet. Laut Freud leide Hamlet an einem frühkindlichen Konflikt, wodurch er sich zu seiner Mutter hingezogen fühle und seinen Vater als Rivalen betrachte. Claudius nimmt somit als Mörder von Hamlets Vater und neuer Ehemann seiner Mutter den Platz ein, den sich Hamlet insgeheim ersehnt. Das führt zu Hamlets Verurteilung seiner Mutter, die sich nicht für ihn entschieden hat. Außerdem ist er so nicht in der Lage, Rache an einer Person zu üben, die seine eigenen Sehnsüchte symbolisiert. Hamlet verliert sich in Selbsthass und inneren Zerwürfnissen. Mit dieser Theorie wird auch Laertes zu seinem Gegenspieler. Dieser kann die Rache für seinen Vater ohne innere Konflikte strategisch planen und durchführen. (Neubauer und Böck, 47f.)

Sexualisierung und Feminismus

Nur zwei weibliche Figuren kommen in Shakespeares Drama »Hamlet« vor. Eine davon ist Gertrude, die Königin von Dänemark. Sie wird von ihrem Sohn Hamlet scharf kritisiert, der in Anbetracht der schnellen erneuten Heirat nach dem Tod seines Vaters außer sich ist. Den Schwager zu heiraten, galt aus damaliger Sicht als Inzest, sodass das Publikum des 17. Jahrhunderts ebenfalls abgestoßen auf Gertrudes Rolle reagiert haben mag. Außerdem bildet sie mit der raschen Vermählung einen Kontrast zur regierenden Elisabeth I., die sich gegen die Ehe entschieden hatte. (Timm, 86f.)

Gertrude spricht unter Hamlets Strafpredigt von »Flecke[n], tief und schwarz gefärbt« (76), die ihr ein Bewusstsein über ihre Tat unterstellen lassen, allerdings nicht beweisen. Eher scheint sie sich den patriarchalen Normen ihrer Zeit zu fügen, wie sich in ihrer Aussage gegenüber Claudius zeigt: »Ich werde Euch gehorchen« (54). Sie gerät in ein Gefüge aus Interesse und Besitzanspruch, das sich aus dem verstorbenen König in Gestalt des Geistes, König Claudius und Hamlet zusammensetzt. Der Geist untersagt Hamlet, gegen sie Hand anzulegen und schützt sie dadurch. Claudius ist ihr Gemahl, dem sie sich unterwerfen muss, der sie jedoch zu lieben scheint: »Sie ist mir so vereint in Seel’ und Leben, Wie sich der Stern in seinem Kreis nur regt, Könnt’ ich’s nicht ohne sie« (96). Hamlet begegnet ihr mit Abscheu. Ob dies allein ihrer Handlung oder zusätzlich seinen eigenen sexuellen Konflikten zugrunde liegt, liegt im Auge des Betrachtenden.

Die Entscheidung, Claudius so schnell zu ehelichen, fördert in Hamlet ein Gefühl des Verrats und Verlassenwerdens. Seine damit sinkende Meinung von Frauen bekommt auch Ophelia, die zweite weibliche Figur im Drama, zu spüren. Mit Worten wie: »Ihr würdet zu stöhnen haben, ehe Ihr meine Spitze abstumpfet« (66), demütigt er sie zutiefst. Dabei ist es noch nicht lange her, dass er wie ein wahnsinniger Liebhaber in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht war. An ihrem Grab wird er seine Liebe beteuern.

Ophelia repräsentiert ebenfalls die klassische Frauenrolle während der Renaissance. Den Vorschriften ihres Vaters und Bruders ordnet sie sich vollkommen unter. Eine Mutter scheint nicht (mehr) zu existieren. Ophelia gibt sich somit gehorsam und schwach. Die familiären Strukturen und Autoritäten bestimmen ihr Leben und Verhalten. Sie bedeuten für Ophelia Stabilität und Sicherheit. Hamlets Wahnsinn, gesteigert durch sein missbilligendes Verhalten, schlussendlich aber sein Mord an Polonius verunsichern sie nicht nur, sondern nehmen ihr den Vater und damit ihren Halt. Ophelia ist nicht in der Lage, das zu ertragen. Sie verliert den Verstand und ihr Leben. Obwohl sie als Figur kaum eine Entwicklung durchläuft, ist ihre Position entscheidend, um Hamlets facettenreiches Verhaltensspektrum zu veranschaulichen (Timm, 88).

Da die feministische Sicht auf literarische Werke vor allem ab den 1970er-Jahren an Beachtung gewann, ist bei der Betrachtung von Literatur, die in einer weit vorausliegenden Epoche geschrieben wurde, Vorsicht walten zu lassen. Die damaligen Gesellschaftsstrukturen unterlagen Normen, die heute stark angefochten werden und als veraltet gelten, zu dieser Zeit jedoch völlig normal waren. Dazu zählen die Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern und männlichen Verwandten sowie ihr Gehorsam diesen gegenüber. Dennoch lassen sich bei der Untersuchung dieser Gefüge interessante Vergleiche zur heutigen Gesellschaft, insbesondere dem Frauenbild, ziehen. 

 

Veröffentlicht am 30. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 30. Mai 2023.