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Leonce und Lena

1. Akt, Szenen 1-2

Zusammenfassung

Leonce ist Kronprinz des fiktiven Reiches Popo. Er liegt im Garten, und neben ihm auf einer Bank sitzt der Hofmeister, der den Auftrag hat, Leonce auf seinen zukünftigen Beruf des Herrschers vorzubereiten. Dieser aber weist den Hofmeister mit der Begründung zurecht, dass er alle Hände voll zu tun habe. Seine letzte Beschäftigung bestand darin, 365 mal hintereinander auf einen Stein zu spucken, und nun wirft er eine Handvoll Sand in die Höhe. Er bezeichnet sich als Müßiggänger und erklärt, dass im Grunde alle Menschen Müßiggänger seien, denn alle Tätigkeiten der Menschheit entstünden aus Langeweile. Leonce wünscht sich, einer der vielen Menschen zu sein, die ihr Leben ohne dieses Wissen führen und die sich selbst noch ernst nehmen können.

Sein leicht angetrunkener Freund Valerio stößt hinzu und legt sich zu Leonce ins Gras. Sie führen ein Gespräch über ihre Langeweile und die vielen sinnlosen Dinge, die sie tun könnten. Valerio behauptet, er wolle lieber ein Narr sein als eine vernünftige Person. Seine größten Talente seien der Müßiggang, das Nichtstun und seine große Ausdauer in der Faulheit. Er stimmt ein Volkslied an und geht Arm in Arm mit Leonce davon.

In der Zwischenzeit ist Leonces Vater, König Peter, damit beschäftigt, sich anzukleiden. Währenddessen sinniert er – wenig zusammenhängend – über das Amt eines Königs und seine Pflichten. Diese Gedanken werden immer wieder durch verwirrte Einschübe unterbrochen, wenn er wieder einmal nach einem Kleidungsstück sucht. Anschließend tritt er vor den versammelten Staatsrat und verkündet, erneut auf sehr konfuse Weise, die baldige Heirat seines Sohnes. Nach einer längeren Pause fragt er die Anwesenden nach ihrer Meinung. Da ihnen nicht klar ist, wozu sie ihre Ansichten äußern sollen, antworten Präsident und Staatsrat ausweichend, dass es vielleicht so sei, vielleicht sei es aber auch nicht so.

Analyse

Bevor das Drama überhaupt beginnt, findet sich im Text eine kurze Vorrede. Zwar besteht diese lediglich aus zwei vor die erste Szene gestellten Sätzen, diese aber sind trotz ihrer Kürze reichlich diskutiert und analysiert worden.

                      Alfieri: 'E la fama?'
                      Gozzi: 'E la fame?’

Dass es sich bei den Sprechenden um den italienischen Tragödiendichter Vittorio Alfieri und den italienischen Komödiendichter Carlo Gozzi handelt, ist unter Literaturwissenschaftlern allgemein anerkannt. Allerdings hat sich die Forschung noch nicht auf eine einheitliche Interpretation einigen können, denn die originalen Quellen dieser Zitate sind bis zum heutigen Tag nicht festgestellt worden (Lyon, 202). Theorien, was sie wohl bedeuten mögen, gibt es hingegen etliche:

Martin (116f.) argumentiert, dass die beiden von Büchner zitierten Autoren ihre jeweiligen dramatischen Genres personifizieren, Tragödie und Komödie, und ebenfalls das, was diese Gattungen sozial implizieren. Im Falle der Tragödie wäre das heroischer Ruhm, im Falle der Komödie, deren Protagonisten traditionell eher aus ärmeren Schichten der Bevölkerung stammten, wären es materielle Bedürfnisse wie Hunger. Büchners Komödie aber ist unkonventionell, sie zeigt keine armen Leute und ihre materiellen Bedürfnisse. Protagonisten wie Leonce und Lena wären zu Büchners Zeiten eher in einer Tragödie zu finden gewesen. Mit einer Vorrede wie dieser, so Martin, lenkt Büchner daher die Aufmerksamkeit auf seine Subversion der Dramenkonventionen.

Lyon (203ff.) schlägt vor, dass Büchners Quellen für seine Vorrede gar nicht Alfieri und Gozzi selbst waren, sondern ein Text von George Sand, die in ihren Lettres d’un voyageur (1834) diese beiden Dichter erwähnt und ihnen ähnliche Worte in den Mund legt. Die Konstruktion von Büchners Zitaten ähnelt der Sands sehr stark. Setzt man sich nun zusätzlich mit dem originalen Text Sands und seiner Botschaft auseinander, ergibt sich aus Büchners Vorrede eine ganz neue Bedeutung. Sand stellt in ihrem Text durch die beiden Dichter die Frage, wieviel es braucht, um jemanden von dem Ort zu vertreiben, wo er oder sie sich zuhause fühlt. In diesem Sinne würde Büchners Vorrede ähnliche Themen von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit ansprechen, die sich auch in der Komödie wiederfinden: Leonce und Lena werden beide aus ihren heimatlichen Königreichen fliehen.

Das Drama wurde von Büchner im Jahre 1836 verfasst und spielt damit zu einer Zeit, als innerhalb der deutschen Staaten trotz der revolutionären Bewegungen in Europa noch überwiegend absolutistische Strukturen herrschten. Auch das Königreich, in dem Prinz Leonce zuhause ist, scheint ein solches zu sein. Leonce aber ist kein sehr gewöhnlicher Prinz: Er ist wenig interessiert an seiner zukünftigen Macht und weist die Versuche des Hofmeisters, ihn zu unterrichten, entschlossen zurück. Stattdessen denkt er über die Sinnlosigkeit seiner Existenz nach.

Leonce hat erkannt, wie wenig Entscheidungsfreiheit er eigentlich hat. Wie alle anderen Menschen auch, ist er gefangen in rigiden gesellschaftlichen Strukturen. Seine Handlungen haben keine Bedeutung; er könnte genauso gut 365 mal auf einen Stein spucken und Sand in die Luft werfen, und es würde keinen Unterschied machen – und genau das tut Leonce dann auch. Er empfindet das Leben als vorherbestimmt und leidet an seinen Einsichten. Das ist auch der Grund für seine Melancholie. Zwar verspottet er seinen Freund Valerio dafür, dass er »an Idealen laboriert« (1.1), eigentlich aber leidet Leonce genau daran, dass er scheitert, Ideale zu finden, denen er folgen könnte – denn die Welt, in der er lebt, erlaubt es ihm nicht (Mills, 44). Hier gibt es keinen Platz für Individualität.

Seinem Freund Valerio geht es ähnlich. Zusammen versuchen die beiden, ihre Langeweile zu füllen und der Sinnlosigkeit des Lebens standzuhalten. Das erreichen sie, indem sie sich geradeheraus als »Müßiggänger« bezeichnen und ihrer Narrheit freien Lauf lassen. So ruft Valerio aus: »So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln?« (1.1). Narren sind all diejenigen, die sich selbst ernst nehmen können, und die noch nicht erkannt haben, wie fremdbestimmt und unfrei ihr Leben ist. Leonce und Valerio mit ihrer Vernunft hingegen haben genau das erkannt, und sie leiden an ihren Einsichten.

Wie in dieser ersten Szene auch schon deutlich wird, beginnen Valerio und Leonce sich gegen die Fremdbestimmtheit ihres Lebens aufzulehnen. Zweimal stimmt Valerio eine Melodie an: »Hei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand!« (1.1). Dabei handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Volkslied, im Gegenteil: Es wurde in den 1830ern häufig von den Gegnern der absolutistischen Herrschaftsform auf ihren Protesten gesungen, wenn die Polizei in der Nähe war (Lyon, 206). Leonce und Valerio ähneln daher eher zwei protestierenden Revolutionären als einem Prinzen und seinem Freund.

Die absolutistische Organisation des Staates Popo lässt seinen Bewohnern keinen Freiraum, keinen eigenen Willen. König Peter ist der Herrscher dieses absolutistischen Staates und scheint gleichzeitig höchst ungeeignet für seine Position. Seine Gedanken sind wirr, seine Philosophie sinnlos. Er spricht von der Philosophie Spinozas und vom Transzendentalismus, versteht aber eigentlich nicht, wovon er redet, und unterminiert damit seine eigene Glaubwürdigkeit (Lyon, 205) und seine Eignung als König. Peter ist nicht einmal in der Lage, seine Kleidung zu finden. Und dass er eigentlich ein Volk zu regieren hat, vergisst er sogar zeitweise: »Ja, das ist's, das ist's. – Ich wollte mich an mein Volk erinnern!« (1.2) So wird schnell klar, dass es sich bei Büchners Staat nicht um den Versuch einer realistischen Darstellung handelt. »Leonce und Lena« ist vielmehr eine Parodie auf absolutistische Systeme, ihre inkompetenten Herrscher und die ergebenen Untertanen, die nicht selber denken können (Peter behauptet, er müsse das für sein Volk tun), und die wie der Staatsrat lediglich alles wiederholen, was ihr König ihnen sagt, ohne es zu hinterfragen.

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.