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Leonce und Lena

2. Akt, Szenen 1-2

Zusammenfassung

Valerio und Leonce befinden sich auf der von Leonce initiierten Flucht nach Italien. Valerio klagt, dass sie bereits innerhalb kürzester Zeit durch ein halbes Dutzend Königreiche gewandert seien, um der für Leonce geplanten Hochzeit zu entfliehen. Ironisch schlägt er vor, dass Leonce sich doch genauso gut auch einfach hätte umbringen können. Leonce entgegnet, dass er lieber nach der idealen Frau suchen will, die in seiner Vorstellung sowohl sehr schön als auch sehr einfältig ist. Sie beschließen, in einem Wirtshaus eine Pause einzulegen.

Als die beiden Freunde ins Haus verschwinden, treten Prinzessin Lena und ihre Gouvernante auf. Auch sie sind auf der Flucht und haben ebenfalls schon eine weite Strecke zurückgelegt. Lena ist fasziniert von der Weite der Welt und schwärmt davon, ewig weiterzugehen. Die Gouvernante aber besteht darauf, dass es an der Zeit ist, eine Unterkunft für die Nacht zu finden.

Valerio und Leonce sitzen im Garten des Wirtshauses und Leonce zeigt sich erschlagen von der Weite und Fülle seiner Umgebung. Im Vergleich mit der alten Welt fühlt er sich sehr jung. Plötzlich überkommt Leonce ein großer Tatendrang: Er will etwas unternehmen und erleben. Beim Anblick der idyllischen Natur um ihn herum aber wird ihm unheimlich zumute. Über sich in den Wolken sieht er Gespenster, und die Ruhe auf der Erde kommt ihm vor wie ein ängstliches Kind, das sich vor den gespenstischen Gestalten gruselt.

Lena und ihre Gouvernante laufen vorbei und kommen mit den beiden ins Gespräch. Leonce und Lena wechseln zwar nur wenige Worte, in denen sie beide ihre tiefe Müdigkeit zum Ausdruck bringen, aber Leonce ist von den wenigen Sätzen Lenas bereits komplett hingerissen. Valerio hält ihn für einen Narren.

Analyse

Bis hierhin hat das Publikum Leonce und Lena nur individuell und in ihren jeweiligen Königreichen kennengelernt. Sobald sie aber beide ihre jeweilige Heimat verlassen und aufeinandertreffen, zeigt sich, wie sehr sich der Prinz von Popo und die Prinzessin von Pipi ähneln – und das nicht nur in den Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen und den Namen ihrer Königreiche.

Wie aus den vorherigen Szenen hervorgegangen ist, fühlen sich sowohl Leonce als auch Lena in den festen Strukturen ihrer Welt, den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, gefangen. Leonce ist frustriert von der Sinnlosigkeit und Alternativlosigkeit des Lebens und versinkt in Melancholie. Lena wehrt sich gegen die Ehe mit einem Mann, den sie nicht kennt und nicht liebt, und fühlt sich in ihren Entscheidungen weniger frei als eine Blume. Als sie zum ersten Mal die Enge ihrer Heimat verlassen, realisieren die beiden, was für eine weite Welt sie jenseits der Grenzen ihrer Königreiche erwartet.

Leonce hat Angst, dass sich seine neugewonnene Freiheit als Illusion entpuppt: »Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer, aus Furcht überall anzustoßen, daß die schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen, nackten Wand stünde« (2.1). Und Lena will am liebsten sofort die ganze Weite der Welt erkunden: »O sie ist schön und so weit, so unendlich weit. Ich möchte immer so fort gehen Tag und Nacht.« (2.1)

In ihrer ersten Interaktion tauschen sich Leonce und Lena darüber aus, wie tief müde sie beide sind. Leonce sinniert darüber, wie das ganze Leben ein schleichendes Fieber ist, das zum Tod führt, und Lenas Sinne sind so überfordert von allem, dass sie ihren »Weg« – womit sie einerseits ihre Flucht meinen, andererseits metaphorisch ihr Leben umschreiben könnte – als unendlich lang empfindet. So reden beide indirekt vom Tod, den sie zwar fürchten, aber doch herbeisehnen. Erste Todesassoziationen sind bereits geweckt worden, als Valerio in der vorherigen Szene Leonce ironisch den Suizid vorgeschlagen hat und als Lena ihre Hochzeit durch symbolische Sprache mit einer Beerdigung gleichsetzte.

Sowohl der Prinz als auch die Prinzessin fühlen sich so eingeengt in ihrer Entscheidungsfreiheit und sehen ihr Leben als so sinnlos an, dass ihre Gedanken oft um den Tod kreisen und sie diesen keineswegs als Bedrohung, sondern mehr als etwas Faszinierendes, Erleichterndes sehen. Sie vertreten eine fatalistische Einstellung, die sie in tiefe Melancholie stürzt.

Einerseits weisen Leonce und Lena die Ideale, die ihnen von anderen aufgezwungen werden, vehement zurück. »Aber Valerio, die Ideale!« (2.1), verspottet Leonce Valerio, indem er ironisch sein Bild einer idealen Frau schildert. Gleichzeitig aber ist er nicht in der Lage, ein Ideal zu finden, dem er folgen kann und will (Mills, 44). Ähnlich geht es Lena, die zwar das männliche Ideal eines Don Carlos ablehnt, gleichzeitig aber ihr eigenes, wenngleich vages Ideal eines Mannes (jemand, den sie liebt) nicht erreichen kann. Die Protagonisten des Dramas bringen damit sehr deutlich Büchners eigene »anti-idealistische« Einstellung zum Ausdruck (Mills, 40).

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.