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Leonce und Lena

3. Akt

Zusammenfassung

Leonce verkündet Valerio, dass er das fremde Mädchen heiraten will. Valerio merkt an, dass weder sie noch Leonce die wahre Identität des jeweils anderen kennen, aber sein Freund hält das ohnehin nicht für notwendig. Valerio sichert ihm zu, dass er ihn noch am selben Tag vor den Augen seines Vaters verheiraten werde, wenn Leonce ihn im Gegenzug zum Minister mache. Er sagt zu.

Unterdessen haben sich schon der Landrat, der Schulmeister und ein paar festlich gekleidete Bauern auf dem Platz vor dem Schloss versammelt. Der Schulmeister und der Landrat haben die Aufgabe erhalten, den Bauern angemessenes Verhalten für die königliche Hochzeit beizubringen. Sie sollen sich nicht kratzen, nicht die Nase putzen, aber gerührt wirken. Außerdem sollen sie immer wieder »Vivat!« (lat. Er lebe!) rufen.

Im großen Saal des Schlosses stehen der Zeremonienmeister und einige Bedienstete beisammen. Sie bereiten die Feierlichkeiten vor und erwarten das Erscheinen des Königs. König Peter tritt, begleitet vom Staatsrat, ein und erkundigt sich, ob jemand die Prinzessin oder seinen Erbprinzen gesehen habe. Aber keiner der Anwesenden weiß etwas über den Verbleib des Brautpaares. Peter gerät daraufhin in Sorge, da er sein königliches Wort nicht brechen will. Der Präsident versucht, ihn zu beschwichtigen: Ein königliches Wort sei »ein Ding«, das nichts sei.

In diesem Moment treten Valerio, Leonce, Lena und die Gouvernante auf. Sie alle tragen Masken. Peter fragt, wer sie seien, und Valerio nimmt nacheinander mehrere Masken ab. Er wisse selbst nicht, wer er sei, und je mehr er sich in den auf ihn gerichteten Augen anderer gespiegelt sehe, desto weniger wisse er es.

Er verkündet, dass es sich bei den Maskierten um Automaten handele, zwei weltberühmte. Er selbst sei auch ein Automat, und vielleicht der merkwürdigste von ihnen allen, aber eigentlich wisse er selbst ja gar nicht, wer er sei. Bei den beiden Automaten, die er mitgebracht habe, handele es sich um »ein Männchen und ein Weibchen«, die aus nichts als »Kunst und Mechanismus« bestünden (3.3). Sie seien so fein gearbeitet, dass man sie von richtigen Menschen gar nicht unterscheiden könnte. Eigentlich könne man sie leicht zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie seien sehr gebildet und hätten ein feines Gespür für Sitten.

König Peter beschließt daraufhin, dass sie die Hochzeit einfach »in effigie«, also bildlich, feiern werden. Leonce und Lena werden vermählt. Da es sich um eine Nachbildung der geplanten Hochzeit handelt, werden die beiden mit ihren wahren Namen angesprochen, ohne dass irgendwem außer Valerio und der Gouvernante bewusst ist, dass es sich auch tatsächlich um die entsprechenden Personen handelt. Schließlich nehmen alle ihre Masken ab und sorgen damit für große Überraschung im Saal. Auch Leonce und Lena sind überrascht, als sie verstehen, dass sie durch Zufall und aus freiem Willen denjenigen geheiratet haben, der für sie von ihren Eltern als Braut bzw. Bräutigam vorgesehen war.

König Peter ist gerührt, aber auch sehr verwirrt und entfernt sich von der Szene. Leonce schickt die Anwesenden dankend wieder nach Hause. Er bleibt mit Lena zurück und beginnt zu überlegen, was sie mit ihrem Königreich anstellen wollen. Politische Konflikte planen, Theater bauen, jegliche Kalender aussetzen und aufhören, die Zeit zu zählen? Valerio freut sich derweil auf seinen Posten als Staatsminister und verkündet, er werde ein Dekret erlassen, nach dem sich jeder, der zu viel arbeitet, strafbar macht.

Analyse

Zunächst scheint es Leonce und Lena, als hätten sie mit ihrer Hochzeit den Erwartungen ihrer Familien und den gesellschaftlichen Normen getrotzt. Anstatt denjenigen zu heiraten, der ihnen von anderen auserkoren wurde, sind sie aus wahrer Liebe eine Ehe eingegangen. Als sie am Altar ihre Masken abnehmen, müssen sie allerdings einsehen, dass sie zwar aus freien Stücken gehandelt haben, aber dennoch in genau der Situation geendet sind, in die ihre Familien sie bringen wollten. Ohne es zu wissen, haben sie sich perfekt in das ihnen zugedachte Schicksal gefügt. Das, was zuerst wie eine Loslösung von und Rebellion gegen die Erwartungen der Gesellschaft schien, stimmt in Wirklichkeit perfekt mit diesen überein.

Zwar sind Leonce und Lena kurzzeitig aus ihrer Heimat geflohen und haben die Freiheit einer Welt genossen, in der sie nicht in rigiden Strukturen gefangen sind. Letztendlich haben sie aber, ohne es zu wollen, doch innerhalb weniger Stunden wieder in diese zurückgefunden. Ihre Hochzeit verheißt den Sieg des Absolutismus: Sie ist ein Beschluss des Königs, und als Peter in Sorge gerät, dass sein Beschluss scheitern könnte, versucht er, ihn um jeden Preis doch noch durchzusetzen.

Dafür ist ihm selbst eine rein bildliche Hochzeit »in effigie« recht. »In effigie« war eigentlich eine für Hinrichtungen vorgesehene Methode, bei der der Verbrecher nicht anwesend war, sondern symbolisch, eben »in effigie«, hingerichtet werden sollte. Dafür wurde oft eine dem Verbrecher nachempfundene Puppe genutzt, einfach nur, um dem Gesetz Genüge zu tun (Grosse, 54).

Peter zeigt mit dieser Einstellung wieder einmal, dass ihm das Aufrechterhalten des Status Quo und die Wahrung seiner königlichen Autorität wichtiger sind als Aufrichtigkeit und moralische Integrität. Für die Wahrung des Absolutismus schreckt er auch vor Lügen und Hochzeiten »in effigie« nicht zurück. Wie unbedeutend das Wort eines absolutistischen Herrschers ist, erfahren wir spätestens, als der Präsident erklärt, das Wort eines Königs sei nur »ein Ding, – ein Ding, – ein Ding, das nichts ist.« (3.3)

Auch in dieser letzten Szene des Dramas wird also wieder unterstrichen, wie lächerlich und überholt die strikten gesellschaftlichen Strukturen zu Büchners Zeiten sind. Valerio betont mehrfach, dass er seine eigene Identität eigentlich gar nicht mehr kennt. Je mehr er sich in den Augen anderer gespiegelt sieht, desto schlimmer wird es. Um das zu veranschaulichen, wechselt er zwischen einer ganzen Reihe von Masken, die alle ihn abbilden könnten: »Bin ich das? oder das? oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und -blättern« (3.3). Valerios wahre Persönlichkeit aber kennt, dank der Erwartungen der Gesellschaft, sogar er selbst nicht mehr.

Auch Leonce und Lena stellt er nicht als zwei Personen vor, sondern als »weltberühmte Automaten«. Damit stehen sie für zwei perfekt an die Gesellschaft angepasste Wesen; zwei Maschinen, die selbst keinen Charakter und keine Menschlichkeit besitzen, sondern nur noch nach Erwartungen anderer zusammengebaut sind. Da inzwischen aber alle Menschen so sehr an die Regeln und Erwartungen ihres Staates angepasst sind, besteht zwischen zwei Automaten, wie Valerio sie vorstellt, und zwei echten Menschen kein Unterschied mehr. Alle Menschen sind zu automatisch agierenden Marionetten geworden: »Diese Personen sind so vollkommen gearbeitet, daß man sie von andern Menschen gar nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind; man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen.« Mit diesen Worten setzt Valerio aus Pappdeckeln gebaute Automaten und Mitglieder der menschlichen Gesellschaft effektiv gleich.

Als Beweis hierfür dient die Hochzeit »in effigie«. Den Anwesenden scheint es vollkommen gleich zu sein, ob nun eine wirkliche Hochzeit zwischen zwei Menschen oder eine inszenierte zwischen zwei Automaten stattfindet. Solange die gesellschaftlichen Normen eingehalten werden, wird niemand die Zeremonie hinterfragen.

Zum Ende des Dramas verspotten Leonce und Valerio genau diesen Zustand der Rigidität und den Mangel an individueller Freiheit. Schließlich ist er es auch, der ihnen Langeweile und Melancholie beschert. Leonce verhält sich bewusst wie ein komplett absolutistischer König: »Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen?« Er macht ihr eine Reihe von Vorschlägen. Jeder davon klingt vollkommen absurd und unrealistisch, zeigt aber, wie weit die Macht eines Königs zu Büchners Zeiten gehen konnte. Leonces Vorschlag, die Kalender auszusetzen und die Zeitrechnung stattdessen nach seinem und Lenas Empfinden zu definieren, parodiert die Willkür, mit der absolutistische Herrscher regieren und ihre Bürger einschränken konnten.

Büchner stellt in dieser Szene somit all jene infrage, die einfach vor sich hin leben und den Status Quo nicht hinterfragen. Diese Eigenschaft macht ihn zu einem sehr modernen Dichter (Adey, 64). Auf mehrere Weise führt er seinem Publikum die Künstlichkeit der menschlichen Welt vor Augen: zum einen durch die Masken, mit denen Valerio spielt, zum anderen durch Leonces und Lenas Regierungspläne – sie wollen auf ihre Bürger schauen wie durch ein Mikroskop. An dieser Stelle werden wir zu einem Publikum, das auf ein Publikum (Leonce und Lena) schaut, welches wiederum auf einen Mikrokosmos blickt, der die menschliche Gesellschaft abbildet (ebd, 73). Durch diese Methoden der Distanzierung und wechselnder Perspektiven stellt Büchner jegliche Konventionen und festgefahrene Strukturen infrage.

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.