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Leonce und Lena

Interpretationsansätze

Satire auf mehreren Ebenen

»Leonce und Lena« gilt zwar rein formal als ein Lustspiel und wurde von Büchner auch ursprünglich als solches verfasst – er reichte es als Beitrag zu einem Wettbewerb ein, der vom Verleger Cotta gesponsert wurde und die beste deutsche Komödie küren sollte (Garland) –, das Drama trägt jedoch ganz eindeutig auch satirische Züge.

Einerseits kann es als eine politische Satire gesehen werden. Mit Popo und Pipi hat Büchner zwei unverkennbar absolutistische Königreiche geschaffen, wie sie bis ins 19. Jahrhundert hinein in Europa existierten. Weiterhin ist das Drama ein Angriff auf die in Deutschland vorherrschende Kleinstaaterei und die Fürstenwillkür, mit der auch Büchners König herrscht. Peter bildet das Zentrum des Staates und fühlt sich seinen Untertanen weit überlegen; er glaubt sogar, das Denken für sie übernehmen zu müssen. Damit steht er repräsentativ für den Absolutismus. Das wird spätestens deutlich, als Peter sich auf die berühmten Worte des französischen Königs Louis XIV »L’État, c'est moi« beruft. Da er sie allerdings fehlerhaft zitiert, gibt er (unabsichtlich) zu erkennen, wie wenig geeignet zum Regieren er eigentlich ist. Von Peter als einem absolut inkompetenten, verantwortungslosen und sogar konfusen Herrscher, der nicht im Geringsten zum Regieren geeignet ist, und seinen ihm treu ergebenen Untertanen erhält das Drama seine satirischen Elemente. Nicht zuletzt tragen auch die lächerlichen Königreichsnamen Pipi und Popo dazu bei. Mit seiner Kritik am Absolutismus knüpft Büchner an die Botschaften an, die er bereits in seinem politischen Pamphlet, dem »Hessischen Landboten«, zum Ausdruck gebracht hatte.

Andererseits ist das Drama aber auch eine literarische Satire. Die Figuren des Dramas sind nicht nur Parodien der Bürger eines absolutistischen Staates, sondern auch Parodien literarischer Charaktere (Grosse, 60f.). Das Motiv, dass sich zwei Königskinder, die füreinander bestimmt sind, sich aber fliehen, letztendlich unfreiwillig doch zueinander finden, ist ein beliebtes Motiv der Commedia dell’arte (ebd.). Auch Anspielungen auf Shakespeare lassen sich finden (insbesondere in der Figurenkonstellation), ebenso wie auf Goethes »Werther« (Leonces Selbstmord).

Büchners »Leonce und Lena« ist daher von Anfang bis Ende von satirischen Elementen durchzogen. Es ist kritisch, revolutionär und innovativ auf vielerlei Ebenen.

Langeweile, Melancholie und Narrheit

Büchners Protagonisten sind häufig geplagt von Langeweile und Melancholie. Der Titelheld von »Dantons Tod« ist in eine Art Paralyse verfallen, in einen Zustand des ewigen Nichtstuns. Als er im Gefängnis sitzt und auf seine Hinrichtung wartet, klagt er: »Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied! Aber ich bin gerad einmal an diese Art des Faulens gewöhnt, der Teufel weiß wie ich mit einer andern zurechtkomme.« (3.7) Lenz aus Büchners gleichnamiger Novelle klagt: »Ja Herr Pfarrer, sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Figuren an die Wand gezeichnet.« Und auch Leonce weist unermüdlich auf die gähnende Leere und Langeweile in seinem Leben hin:

    Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. – Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile [. . .]. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinierte Müßiggänger. (1.1)

Was all diese Figuren gemeinsam haben, ist ihre Frustration und Verzweiflung. Sie sehen ihr Leben als vorherbestimmt und sich selbst als handlungsunfähig. Leonce, Lena und Valerio empfinden Langeweile, weil sie nicht selbst über ihr Leben entscheiden und lediglich konventionellen Karrieremustern folgen können. Sie müssen erkennen, dass sie in einer fatalistisch geprägten Welt leben, in der sie keinerlei Recht auf Selbstbestimmung oder gar auf eine eigene Persönlichkeit besitzen, sondern ihr Schicksal passiv hinnehmen müssen. Büchners Dramen sind durchzogen von der Problematik des Fatalismus, und eine solche Erkenntnis ist daher sehr typisch für seine Protagonisten. Während die meisten Figuren sich ihrer mangelnden Autonomie nicht bewusst sind, leiden Büchners Protagonisten an ihrer Einsicht in die Vorherbestimmt der menschlichen Existenz. Daraus ergibt sich die für sie typische Melancholie und eine Flucht in Narrheit und Sprachwitz, die als Bewältigungsmechanismen der Hoffnungslosigkeit dienen und eine Flucht vor der Wirklichkeit bieten. Valerio beispielsweise wünscht sich nichts sehnlicher herbei als die Narrheit: »So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln?« (1.1)

(Anti-)Idealismus

Teilweise wird der Fehler begangen, Büchner als Idealist zu bezeichnen und die Ideale, denen er sich verschrieben hat, allzu klar zu definieren. Eine solche Herangehensweise allerdings kann leicht zu Fehlinterpretationen seiner Werke führen. Denn wie Helmut Krapp bemerkte: »Büchners Werk [weist] so schroff wie keines den Begriff der ›inneren Einheit‹ zurück [...], Büchner gestaltet den Bruch; er konstruiert Gegensätze.« (Reddick, 290) Das zeigt sich schon bei der Konstruktion des Handlungsgeschehens in seinen Werken: In jedem davon geht es um den Zusammenbruch eines Systems, das zu Beginn noch stabil war (wenngleich brüchig und ungerecht) und im Laufe der Geschichte auseinanderbricht (ebd.). Es bleiben Chaos, Flucht, Verrücktheit und Mord (ebd.).

Büchner hatte das Streben der Aufklärung nach Fortschritt, Freiheit, Gleichheit und individueller Würde übernommen und blieb sein ganzes Leben lang ein Revolutionär (ebd.). Gleichzeitig aber erkannte er viel mehr noch als seine Zeitgenossen den hoffnungslosen Zustand seiner Gesellschaft und wie weit sie davon entfernt war, die Ziele der Vormärz-Bewegung tatsächlich auch umzusetzen. In seinen Werken beschäftigt Büchner sich mit der Kluft zwischen den Idealen des Vormärz und der politischen und sozialen Realität (ebd.). Seine Protagonisten sind auf der Suche nach Idealen, denen sie folgen können. Sie wollen ein authentisches Leben führen und ihre Individualität ausleben, aber sie scheitern. Daher können Büchners Werke nicht von einem unitarischen Standpunkt betrachtet werden (ebd.): Er ist ein Anti-Idealist, dessen Weltanschauung sich nicht auf ein paar wenige Worte oder Gedankenschulen reduzieren lässt (Mills, 43).

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.