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Leonce und Lena

Figuren

Figurenkonstellation

Leonce und Lena – Figurenkonstellation
  • Leonce

    Leonce ist der Kronprinz des Königreiches Popo und zeichnet sich vor allem durch drei Charaktereigenschaften aus, die er selbst ständig betont: Langeweile, Melancholie und Narrheit.

    Leonces Langeweile entsteht daraus, dass er mit seinem Leben nichts anzufangen weiß. Er bezeichnet alles, was Menschen in ihrem täglichen Leben tun, als Produkt der Langeweile. Studieren, lieben, heiraten und schließlich sterben – all diese Dinge würden aus Langeweile getan, so Leonce. Er schlussfolgert: »Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger.« (1.1) Der Grund dafür ist, dass es den Menschen an Alternativen mangelt. Jeder nimmt in der Welt eine Rolle ein, und muss diese bis zu seinem Tod spielen, abweichen darf man nicht. Leonce aber wünscht sich genau das. Er fühlt sich in seiner Rolle des Kronprinzen gefangen, aber sie zu verlassen, ist ihm nicht gewährt: »O wer einmal jemand Anders sein könnte! Nur 'ne Minute lang.« (1.1) Leonce will nicht nur eine Rolle spielen, sondern seine Persönlichkeit frei entfalten dürfen. In einem absolutistischen Staat wie dem Popos ist genau das aber nicht möglich.

    Leonce ist in der Lage, die Struktur seiner Gesellschaft besser zu durchschauen als seine Zeitgenossen, und er leidet an seinen Einsichten. Er hat erkannt, wie rigide die gesellschaftliche Ordnung ist und wie erbarmungslos ihre Normen und Regeln sind. Raum für Individualität bleibt nicht. Daraus ergibt sich die Melancholie, die Leonce empfindet und die er konstant betont, schon in der ersten Szene, als er die Wolken beobachtet: »Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.« (1.1) Mit dem Wort Melancholie umschreibt Leonce seine Hoffnungslosigkeit angesichts der Alternativlosigkeit seiner Existenz.

    Leonces Narrheit ist eine Art Bewältigungsmechanismus. Sie bewahrt ihn davor, an der Langeweile zu verzweifeln und in die Tiefen der Melancholie zu stürzen. Die Narrheit äußert sich in Humor, Verrücktheit und Sprachwitz und bietet Leonce einen Weg, der Realität zu entfliehen.

  • Lena

    Lena ist die Prinzessin des Königreiches Pipi, aber genau wie Leonce fühlt sie sich in ihrer Rolle nicht sehr wohl. In der Szene, in der wir sie kennenlernen, klagt sie gegenüber ihrer Gouvernante über das Schicksal, das ihr blüht: eine Heirat gegen ihren Willen. Lena will jemanden heiraten, den sie liebt, aber diese Freiheit wird ihr verwehrt, und folglich sieht sie sich mit weniger Freiheiten ausgestattet als eine Blume (1.4). Eine Blume kann selbst entscheiden, wann sie sich öffnet und schließt; Lena aber kann nicht einmal darüber entscheiden, wen sie heiraten wird.

    Lena sieht sich als autonomes Subjekt, wird aber behandelt wie ein heteronomes Objekt. Sie fühlt sich gefangen in ihrer Rolle als Prinzessin und beschließt zu fliehen, womit sie ihre Autonomie zurückgewinnen will. Aber selbst auf ihrer Flucht redet sie ständig von dem langen und erschöpfenden Weg ihres Lebens: Auch außerhalb ihres Königreichs findet Lena nicht die erhoffte Freiheit. Infolgedessen entwickelt sie eine Faszination für Träume und für den Tod. Anders gesagt: eine Faszination für alles, was sich außerhalb der Grenzen der Wirklichkeit abspielt und was ihr einen Ausweg aus der Realität ihres Lebens bietet. In diesen Tendenzen ähnelt sie sehr Leonce mit seiner ewigen Langeweile und Melancholie.
    Gleichzeitig unterscheidet sich Lena aber auch sehr von Leonce. Sie teilt nicht seinen Witz, seinen Zynismus und die Derbheit seiner Ansichten und scheint daher noch nicht ganz so sehr ihrer Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erlegen zu sein wie Leonce (Grosse, 41f).

  • Valerio

    Valerio ist ein Freund von Leonce. Die beiden ähneln sich sehr: Genau wie Leonce ist Valerio in der Lage, seine Gesellschaft und das politische System zu durchschauen. Anders als Leonce leidet Valerio allerdings nicht an diesen Einsichten. Er kann die Langeweile und den Müßiggang genießen und schwelgt regelrecht darin.

    Valerio ist stolz auf sein Nichtstun, und auf die Frage des Prinzen, was seine Profession sei, entgegnet er: »Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. In der letzten Szene, als Valerio nach der Heirat von Leonce und Lena zum Staatsminister ernannt wird, beschließt er, in seinem Königreich die Regel aufzustellen, dass, wer sich krank arbeite, kriminalistisch strafbar sei. Valerios Narrheit ist noch ausgeprägter als die von Leonce. Er schätzt Verrücktheit über alles: »So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln?« (1.1)

    Dass Valerio solch andere Schlüsse aus der Langeweile des Lebens zieht als Leonce, macht ihn in gewisser Weise zu dessen Gegenbild. Die beiden verhalten sich zueinander wie ein »skeptischer Idealist« und ein »sensualistischer Materialist« (Grosse, 42). Was Leonce beispielsweise als erdrückender und unheimlicher Abend erscheint, ist für Valerio ein »Wirtshaus zur goldenen Sonne« (ebd.). Und während Leonce an seiner Langeweile zugrunde geht und verzweifelt nach Idealen sucht, hat Valerio kein Problem damit, sich dem Müßiggang hinzugeben und in einer Welt ohne Sinn und Ideale zu leben.

  • König Peter

    König Peter ist der Herrscher des Königreiches Popo, der Vater von Leonce und der Inbegriff des Absolutismus. Gleich in der ersten Szene, in der er auftritt, gibt er zu erkennen, dass er sich seinen Untertanen weitaus überlegen sieht: »Die Substanz ist das 'an sich', das bin ich«, sagt er zu seinen Kammerdienern, während er angekleidet wird. Peter sieht sich als den Kernpunkt des Staates und seine Untertanen als Beiwerk. Sie sind nichts weiter als Objekte, für die er sogar das Denken übernehmen muss. Später bei der Hochzeit erklärt er auch, was ihm am wichtigsten von allem ist, wichtiger sogar als das Wohl seiner Untertanen: »Aber mein Wort, mein königliches Wort!« Peter verhält sich damit genauso, wie man es von einem absolutistischen Herrscher zu Büchners Zeiten erwartet hätte. Mit dem bereits zitierten Satz ordnet sich Peter außerdem in die lange Tradition absolutistischer Herrscher in Europa ein: Er beruft sich mit seinen Worten auf das berühmte Zitat des französischen Königs Louis XIV »L'État, c'est moi«, was ebenfalls als Inbegriff des Absolutismus gesehen werden kann.

    Gleichzeitig aber ist Peter hochgradig konfus. Er läuft nackt im Zimmer umher, vergisst ständig, was er sagen will, und fragt seine Untertanen um Rat, ohne ihnen mitzuteilen, wozu er eigentlich ihren Rat wissen will. Peters Denken dreht sich sehr oft im Kreis, und er wiederholt sich ständig (Grosse, 23). Er hält verwirrte Reden über Spinoza und Transzendentalismus, um seine Regierungsfähigkeit zu unterstreichen, bringt aber die Konzepte durcheinander und erreicht genau das Gegenteil (Lyon, 205). Alles in allem entsteht daher eher der Eindruck, dass es sich bei Peter um die Person im Drama handelt, die wahrscheinlich am wenigsten zum verantwortungsbewussten und demokratischen Regieren geeignet ist.

    Peter wird auf diese Weise zu einer Satire. Mit der lächerlichen Figur des Königs parodiert Büchner die absolutistischen Herrscher Europas und die Art, wie sie ihre alleinige Herrschaft dadurch zu rechtfertigen versuchen, dass sie sich aus bekannten Philosophien ihre eigene zurechtlegen (vgl. Mills, 43).

  • Andere Figuren

    Neben den bereits genannten Figuren treten noch einige weitere auf: die Gouvernante, der Präsident und der ihn begleitende Staatsrat, der Hofmeister und der Lehrer. Manche von ihnen, wie beispielsweise der Präsident, treten gleich mehrfach auf und ihnen allen kommen bei ihren jeweiligen Auftritten deutlich mehr als nur ein Satz zu. Trotzdem erlangt keiner von ihnen auch nur ansatzweise etwas, das sich als eine wirkliche Persönlichkeit bezeichnen ließe. Und genau das scheint Büchners Absicht zu sein: Er gestaltet diese Figuren typenhaft und hebt sie durch überzeichnete Eigenschaften hervor. Sie alle sind nach der Profession benannt, die sie ausüben, und erfüllen die typischen Rollenbilder, die damit verknüpft sind. Damit führt uns Büchner genau das vor Augen, was Leonce so vehement an seiner Gesellschaft kritisiert: dass kein Raum bleibt für Individualität, dass jeder einen der gängigen Karrierewege einschlagen muss und davon nicht abweichen darf. Die Einzigen, die nicht in diese typischen Rollenbilder verfallen, sind Leonce, Lena und Valerio. Zwar sind auch Figuren wie Rosetta und König Peter nicht nach ihrer Profession benannt, doch auch sie entsprechen nicht gerade dem, was man für gewöhnlich unter einem profilierten Charakter verstehen würde.

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.