Skip to main content

Leonce und Lena

1. Akt, Szenen 3-4

Zusammenfassung

Leonce lässt von seinen Dienern einen Raum abdunkeln, Kerzen anzünden und Rosen aufstellen. Er will das romantische Ambiente einer tiefen Nacht schaffen. Der Prinz hat auf seine Geliebte Rosetta gewartet, die nun zu ihm in den Raum tritt. Er klagt ihr von seinen Qualen des Nichtstuns. Rosetta fragt, ob er sie etwa nur aus Langeweile liebe, und Leonce erklärt, dass seine Liebe zu ihr und seine Langeweile ein und dasselbe seien. Während Rosetta für ihn tanzt und singt, stellt Leonce fest, dass eine sterbende Liebe viel schöner als eine werdende ist, und er beschließt, sich von seiner Geliebten zu trennen. Er will seine Liebe begraben. Rosetta entfernt sich traurig von ihm und verlässt den Raum.

Leonce beginnt daraufhin, über sein Leben nachzudenken: Mit wie vielen Frauen muss er zusammen sein, um alle Facetten der Liebe kennenzulernen? Er sieht sein Leben als einen großen Papierbogen, den er beschreiben soll, nur dass er nicht weiß, womit. Zwar versucht er täglich, sich neu zu erfinden, aber es will ihm nicht gelingen. Er bleibt immer der, der er ist, und kann bereits vorhersagen, wie seine Gedanken ein Jahr später aussehen werden.

Valerio gesellt sich zu ihm und die beiden beginnen, sich gegenseitig mit Wortspielen zu übertreffen. Ihr Gespräch wird jäh vom Staatsrat unterbrochen. Der Präsident informiert Leonce, dass seine Verlobte, die Prinzessin Lena des Königreiches Pipi, am folgenden Tag eintreffen werde. Leonce und Valerio geben ihm sowie dem restlichen Staatsrat spöttische Antworten.

Sobald die Männer fort sind, beginnt Valerio, den Beruf des Königs zu verspotten. Leonce und er gehen scherzhaft einige weitere mögliche (wenngleich für sie unrealistische) Karriereoptionen durch, wie die Wissenschaft, das Heldentum, Künstlertum. Keine dieser Aussichten stellt Leonce und Valerio zufrieden, und deshalb überlegen sie sarkastisch, ob sie vielleicht »nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft« (1.3) werden sollten. Leonce allerdings behauptet, lieber wolle er das Menschsein aufgeben. Auch Valerios Vorschlag, zum Teufel zu gehen, lehnt er ab. Stattdessen schlägt er vor, sie sollten gemeinsam nach Italien gehen, er verspüre ein »Wehen aus dem Süden«.

Unterdessen sitzt Prinzessin Lena des Königreiches Pipi mit ihrer Gouvernante im Garten ihres Palastes. Sie ist blass und klagt darüber, dass von ihr verlangt werde, zu heiraten, wenngleich sie das doch gar nicht wollte. Lena will keinen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sie kommt sich wertloser vor als eine Blume: Selbst eine Blume kann entscheiden, wann sie sich öffnet und schließt. Lena aber kann nicht einmal entscheiden, wann und wen sie heiraten möchte.

Analyse

Spätestens in dieser Szene zeigt sich, wie sehr Leonce seine Existenz verabscheut. Er fühlt sich gefangen in seiner Rolle. Das bringt er ganz besonders in seinem Monolog zum Ausdruck, den er sich selbst hält:

    Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an. (1.3)

Dass Leonce sich als leeres Papier, als leeren Tanzsaal sieht, bringt sein verzweifeltes Verlangen nach einer individuellen Persönlichkeit zum Ausdruck. Diese Persönlichkeit aber ist in den strikten Strukturen des Absolutismus keinem vergönnt, nicht einmal dem Kronprinzen selbst. Leonce versucht zwar konstant, doch noch eine Persönlichkeit für sich zu finden, wie er mit der Handschuh-Metapher veranschaulicht – »Ich stülpe mich jeden Tag vier und zwanzigmal herum, wie einen Handschuh« – aber es will ihm nicht gelingen. Das Resultat ist, dass er in seiner Rolle gefangen bleibt: »O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde.« (ebd.)

Das Ergebnis von Leonces fatalen Einsichten ist die Langeweile, die ihn plagt, und die ihn insbesondere in dieser Szene beschäftigt. Seine Liebe zu Rosetta ist ein Produkt dieser Langeweile, ebenso wie sein Spott über den Staatsrat. Wie Leonce bereits in der ersten Szene des Dramas festgestellt hat, tun die Menschen alles lediglich aus Langeweile. So ist auch er nichts weiter als ein Müßiggänger. Seine Trennung von Rosetta stellt einerseits einen Versuch dar, seinen Müßiggang ein wenig spannender zu gestalten. Andererseits dient sie auch als Beweis dafür, dass der Prinz so wenig Willensfreiheit besitzt, dass ihm jegliche seiner Handlungen ultimativ unbedeutend vorkommen – sogar die Trennung von seiner Geliebten.

Valerio bezeichnet Leonce sehr passend als ein »Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen« (1.3). Der Prinz sucht nach Idealen und nach einer Persönlichkeit, aber er kann sie nicht finden, und diese Einsicht macht ihn zum nahezu tragischen Helden einer Komödie. Valerios Gespräch mit Leonce unterstreicht die Sinnlosigkeit des Lebens im Königreich Popo. Die gängigen Karrierebilder, welche die beiden Freunde der Reihe nach ironisch durchgehen, entstehen alle aus Müßiggang und Langeweile. Indem sie sie verwerfen, geben Leonce und Valerio diese Karrierewege der Lächerlichkeit preis, vor allem den des Genies, der für die vorhergegangene Kunstperiode der Romantik steht. Den Weg des Genies parodieren die Freunde ganz besonders stark, indem sie den Wappenvogel der Romantik, die Nachtigall, mit ihren Worten »entfiedern« (Fortmann, 178). Auch die »Alexanders- und Napoleonsromantik« (1.3) verspotten sie und erteilen somit ganz im Sinne Büchners dem Heroenkult ihrer Zeit eine Absage (Grosse, 49).

Leonce und Valerio geben sich keinen Illusionen hin – anders als die Romantiker haben sie die Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit ihrer Existenz begriffen. Sie wissen, wie wenig Spielraum ihnen in ihrem Leben gewährt ist. Das Einzige, was ihnen bleibt, wäre, »nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft« (1.3) zu werden, d. h. sich in das Strukturmuster zu fügen und die Erwartungen anderer zu erfüllen, indem sie festgefahrenen Karrierewegen folgen.

Zusätzlich zur Langeweile und Melancholie zeichnet sich ein weiteres wichtiges Thema des Dramas hier bereits in Ansätzen ab, das später aber noch stärker hervortreten wird: das Schauspiel. Leonce und Valerio sind nicht nur Figuren in einem Drama, sondern sie verhalten sich auch innerhalb des Handlungsgeschehens aktiv als Schauspieler. An vielen Stellen verfallen die beiden Freunde in kleine Rollenspiele, wie beispielsweise schon in der ersten Szene des Dramas, als Valerio zu Leonce tritt, ihm an die Nase fasst und mit dieser Gestik König Peter imitiert (Lyon, 204). Als Leonce nun beschließt, sich selbst einen Monolog zu halten (1.3), verhält er sich ebenfalls wieder wie ein Schauspieler. An solchen Stellen sind Valerio und Leonce Schauspieler in einem Schauspiel. Mit dieser Verhaltensweise bauen sie Distanz zu ihrer Umwelt auf und nehmen eine Position ein, von der aus sie sowohl sich selbst als auch die Gesellschaft von außen betrachten und verspotten können.

Ganz ähnlich wie Leonce und Valerio geht es Prinzessin Lena, auch sie fühlt sich gefangen in ihrer Rolle. Mit ihrer Blumenmetapher veranschaulicht sie, wie wenig Entscheidungsfreiheit sie hat: so gut wie gar keine. Die für sie geplante Hochzeit erscheint ihr daher weniger ein Anlass zur Freude, als vielmehr ein Todesurteil. Auf mehrfache Weise wird in dieser Szene der Tod evoziert: Lena hat Rosmarin im Haar, dessen Kränze sowohl bei Hochzeiten als auch bei Beerdigungen getragen wurden, das von ihr gesungene Volkslied handelt von Tod und Trauer, und ihr Bild vom Nagel in den Händen spielt auf die Kreuzigung Christi an (Grosse, 50). Auch Lena gibt sich keinen Illusionen mehr hin. Einen Don Carlos, mit dem die Gouvernante Leonce vergleicht, will Lena nicht. Don Carlos war der Sohn König Philipps II. von Spanien, Titelheld eines Dramas von Schiller, und ist hier als edel gesinnter Ritter gemeint (ebd.). Mit ihrer Zurückweisung dieser mittelalterlich anmutenden Figur sagt Lena dem Zeitalter der Romantik und des Heroismus ab.

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.