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Leonce und Lena

2. Akt, Szenen 3-4

Zusammenfassung

Lena und ihre Gouvernante befinden sich in einem Zimmer des Wirtshauses. Die Prinzessin denkt ununterbrochen an Leonce. Er erschien ihr zwar äußerlich jung, aber innerlich sehr alt und müde. Sie fürchtet, er könnte zu der Art Menschen gehören, die allein aufgrund ihrer Existenz unglücklich sind. Sie beschließt, hinaus in den Garten zu gehen, da sie sich im Zimmer eingeengt fühlt.

Lena sitzt im Garten auf dem Rasen, Valerio und Leonce befinden sich in der Nähe. Sie spricht leise vor sich hin und vergleicht den Mond mit einem schlafenden Kind, das bald der Tod holen wird. Leonce nähert sich ihr, spricht sie an und stellt sich ihr als ein Traum vor. Als Lena erwidert, der Tod sei der seligste Traum, will Leonce ihr Todesengel sein. Sie küssen sich, bis Lena plötzlich davonläuft.

Leonce ist überwältigt. Es kommt ihm vor, als habe er mit dem Kuss einen Tropfen Seligkeit vom »dunklen Gold« der Erde gekostet. Nun will er sich umbringen, indem er sich in den Fluss stürzt. Valerio hält ihn gerade noch rechtzeitig auf und bringt ihn von seiner Idee ab. Er schlägt vor, die Nacht draußen im Garten zu verbringen, und Leonce klagt, Valerio habe ihn um den »schönsten Selbstmord« gebracht.

Analyse

Lenas Beschreibungen von Leonce mögen auf den ersten Blick seltsam erscheinen: Warum bezeichnet sie einen jungen Mann, von dem sie sehr hingerissen zu sein scheint, als alt? Mit Blick auf die direkt vorhergegangene Szene ergeben ihre Worte jedoch deutlich mehr Sinn. Leonce und Lena hatten sich gegenseitig ihre tiefsitzende Müdigkeit geschildert, und nach ihrem kurzen Zusammentreffen wurde deutlich, wie Lenas Worte über die Müdigkeit genau das waren, was Leonce so an ihr begeisterte. Nun sehen wir, dass es Lena ähnlich geht. Auch sie liebt den »Winter im Herzen« Leonces, der metaphorisch für sein Alter und seine Müdigkeit steht und einen starken Kontrast zu dem »Frühling auf den Wangen« bildet.

Mit ihrer Vermutung, dass Leonce nicht nur mit seiner Existenz, sondern gerade auch aufgrund dieser Existenz unglücklich ist, liegt Lena ebenfalls richtig. Durch die ganzen vorherigen Szenen hinweg hat Leonce zum Ausdruck gebracht, für wie sinnlos er sein Leben hält, dass er alles aus Langeweile tut und stets melancholisch gestimmt ist. Wie ebenfalls aus jenen vorherigen Szenen hervorgetreten ist, geht es Lena ähnlich, und allmählich zeigt sich, dass genau diese Kombination aus Müdigkeit, Melancholie und Frustration über ihre sinnlose Existenz das sein wird, was Lena und Leonce zueinander zieht.

Beide sind sie des Lebens überdrüssig, und beide empfinden sie den Tod als verlockenden Ausweg aus ihrer Misere. In der Szene im Garten fantasiert Lena über den Tod, indem sie den Mond mit einem sterbenden Kind vergleicht und den Tod als den seligsten aller Träume bezeichnet, und Leonce stellt sich ihr bereitwillig als Todesengel vor. In einem Leben, in dem sie so wenig Freiheit besitzen, dass sie ihre Wege nicht frei wählen können, erscheint der Tod ihnen als große Versuchung. In diesem Licht nehmen Lenas Worte, mit denen sie sich von ihrer Gouvernante nach draußen in den Garten verabschiedet, eine ganz andere Bedeutung an: »Ich kann nicht im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.« (2.3)

Derjenige allerdings, der letztendlich Selbstmord begehen will, ist Leonce. Der Kuss hat ihn überwältigt, und das vor allem deshalb, weil er zum ersten Mal in seinem Leben etwas vom »dunklen Gold« der Erde gekostet hat (2.4). Damit meint er die Fülle der Welt und das wahre Leben, das ihm bisher verwehrt geblieben ist. Vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben hat Leonce etwas vollkommen spontan und aus freiem Willen heraus getan, ohne ihm von der Gesellschaftsstruktur vorgeschriebene Normen zu beachten. Für den Prinzen eines absolutistischen Staates wäre es vollkommen unangemessen, öffentlich eine Beziehung mit einem gewöhnlichen Mädchen einzugehen, und das auch noch ohne Zustimmung der Eltern. Für denjenigen aber, der sich dem absolutistischen Staat entzogen hat und der auf der Suche nach seinen eigenen Idealen ist, ist es vollkommen möglich.

Dieses aus seiner neugefundenen Freiheit entstandene Glück ist zu viel für Leonce. Er will sich umbringen, wie er mit einer Anspielung auf den Schierlingsbecher verkündet, mit dem der griechische Philosoph Sokrates sich der Erzählung nach (auf Anweisung) umbrachte. Als Valerio ihn davon abbringt, beklagt er, dass er ihn um den schönsten Selbstmord gebracht habe: Für jemanden wie Leonce, der schon lange mit dem Tod liebäugelt, ihn idealisiert und preist, ist es sehr wichtig, seinen eigenen Tod auch perfekt zu inszenieren. Der Moment, in dem er zum ersten Mal von der Seligkeit des Lebens gekostet hat, muss also unweigerlich der ideale Zeitpunkt für einen erhabenen und pathetischen Selbstmord sein – und um diesen hat ihn Valerio gebracht.

Leonce scheint aber noch ein anderes Vorbild für seinen Selbstmord gehabt zu haben. Er spricht von einem »Kerl«, der ihm mit »seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen« alles verdorben habe. Damit bezieht er sich auf Goethes berühmten Roman »Die Leiden des jungen Werthers«, dessen Protagonist bei seinem Selbstmord genau diese Kleidung trägt (Grosse, 61). Werthers Tod ist in der Literaturgeschichte berühmt wie sonst kaum einer, und der Roman löste nach seinem Erscheinen eine regelrechte Selbstmordwelle aus. Auch Leonce scheint das durch Werther verherrlichte Bild des perfekten Selbstmordes verinnerlicht zu haben.

Veröffentlicht am 3. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2023.