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Streuselschnecke

Historischer Hintergrund und Epoche

Bei der Erzählung »Streuselschnecke« handelt es sich um ein zeitgenössisches Werk, das um die Jahrtausendwende entstanden ist. Es betrachtet rückblickend den Zeitraum kurz vor der Wende im Jahr 1990, in dem sich Vater und Tochter im Berliner Westen kennenlernen. Dieser Zeitraum wird zwar durch die Kurzgeschichte nicht explizit vorgegeben, lässt sich jedoch über kleine Hinweise in der Erzählung selbst und die Bezüge zur Biografie Julia Francks herleiten.

Julia Franck, die gebürtig aus Berlin stammt, verortet die »Streuselschnecke«, wie viele weitere ihrer Kurzgeschichten, im Zentrum der Landeshauptstadt. Der »Topos Berlin« (Biendarra 214) ist allgegenwärtig und definiert unter anderem mit dem Schauplatz Café Richter am Hindemithplatz im Westen von Berlin das Milieu, in dem sich die Protagonisten bewegen. Das real stattgefundene Wiedersehen von Franck und ihrem eigenen Vater, der an einem Hirntumor erkrankt und stirbt, spiegelt sich in der Beziehungskonstellation der beiden Hauptfiguren in der »Streuselschnecke«. Solche und viele weitere Parallelen zur Biografie der Autorin stellen die Kurzgeschichte unweigerlich in den Kontext der deutschen Wiedervereinigung.

Die sogenannte »Wendeliteratur« ist eine von vielen Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur und fällt zeitlich betrachtet in die Postmoderne. Diese Epoche, die nach heutigem Standpunkt um etwa 1990 beginnt, ist von zahlreichen gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt. Das Jahr 1990 markiert die vorläufige Beendigung des Kalten Krieges, die deutsche Wiedervereinigung und damit die politische Neuordnung Deutschlands.

Charakteristisch für die Jahre zwischen 1990 und 2010, auf welche die Postmoderne zumeist begrenzt wird, ist die rasante Entwicklung digitaler Medien und Kommunikationstechnologien. Vor diesem Hintergrund ist das verwendete Telefon in der Kurzgeschichte ein weiterer Hinweis dafür, dass die Handlung zeitlich vermutlich eher etwas früher anzusiedeln ist. 

Stilistisch lässt sich die Erzählung dem Minimalismus sowie einem »haptischen Realismus« (Pietsch 116) zuordnen. Der Ausdruck »haptischer Realismus« stammt ursprünglich von Katharina Döbler, den sie in einem Zeitungsartikel in Bezug auf das Schreiben Julia Francks gebrauchte. In der Kurzgeschichte »Streuselschnecke« berichtet die Ich-Erzählerin nahezu unkommentiert genau das, was sie in den verschiedenen Momenten über ihre Sinne wahrnimmt. Die dadurch entstehenden »Momentaufnahmen« (Pietsch 118) bleiben der Deutung der Lesenden überlassen.

Oftmals wird Julia Franck auch mit der sogenannten »Frauenliteratur« in Verbindung gebracht, »die der Frauenbewegung der 1970er Jahre entspringt und auf Autorinnen wie Christa Wolf, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek u. v. m. zurückgeht.« (Marsch 17) Julia Franck gehört dagegen zu einer neuen Generation junger Autorinnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die ein bestimmtes Lebensgefühl ihrer Zeit widerspiegeln und sich durch ihre Vielseitigkeit von der erwähnten Frauenliteratur der 1970er Jahre deutlich abheben. 

Gemeinsam ist diesen Autorinnen, zu denen neben Franck beispielsweise Judith Hermann und Sybille Berg zählen, »die Thematisierung existentieller Fragen« (Marsch 17) sowie ein vorrangig nüchterner und distanzierter Sprachstil in ihren Erzählwelten. Dennoch ist der Begriff »Frauenliteratur« oder auch »Fräuleinwunder« als Kategorisierung mit Vorsicht zu genießen, da er eine bloße Reduzierung auf das Geschlecht darstellt und der Vielfältigkeit der Ausdrucksformen dieser jungen Generation von Autorinnen kaum gerecht wird.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.