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Streuselschnecke

Prüfungsfragen

  • Welche für eine Kurzgeschichte typischen Merkmale lassen sich in der »Streuselschnecke« von Julia Franck finden?

    In der Kurzgeschichte »Streuselschnecke« von Julia Franck lassen sich mehrere gattungstypische Merkmale feststellen. Berichtet wird aus einer personalen Erzählperspektive. Die Geschichte weist einen unmittelbaren Einstieg in medias res und ein relativ offenes Ende auf. Die Zahl der Personen ist auf zwei Hauptfiguren und wenige Nebenfiguren beschränkt. Weitere Merkmale sind ein deutlicher Spannungsaufbau durch die Mehrdeutigkeit des Verhältnisses zwischen Mann und Mädchen sowie die Fokussierung auf einen zentralen Konflikt, der sich durch das besondere Beziehungsgeflecht der handelnden Figuren ergibt.

  • An welchen Stellen in der Kurzgeschichte »Streuselschnecke« werden Informationen ausgelassen und was könnte die von Julia Franck intendierte Wirkung dieser Leerstellen sein?

    An mehreren Stellen der Geschichte lassen sich sogenannte Leerstellen oder Kohärenzlücken finden, die teilweise durch das besondere Erzählverhalten in der »Streuselschnecke« bedingt sind. Beispielsweise bleiben die Gefühle und Gedanken der beiden Hauptcharaktere größtenteils im Unklaren und bis zum Ende der Erzählung wird die wahre Identität des Mannes verschwiegen. Die Ich-Erzählerin teilt den Leserinnen und Lesern nur das mit, was sie auch mitteilen möchte. Das bewusste Verschweigen bestimmter Informationen der Ich-Erzählerin bringt eine große Unsicherheit der Leserinnen und Leser mit sich und führt sie absichtlich auf eine falsche Fährte.

  • Analysieren Sie das Verhältnis der Ich-Erzählerin zu ihrem Vater unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dieses erst ganz am Ende der Kurzgeschichte deutlich wird.

    Die Vater-Tochter-Beziehung wird erst durch den letzten Satz der Geschichte als solche erkennbar. Dadurch erfolgt eine Neubewertung des zuvor beschriebenen Verhältnisses zwischen dem Mann und dem Mädchen. Ihr Verhältnis ist auch nach zwei Jahren des Kennenlernens noch distanziert. Allerdings weiß die Tochter um die Vorliebe des Vaters für Streuselschnecken, was doch zeigt, dass sich die beiden näher gekommen sind. Trotzdem bleibt es dem Vater verwehrt, ein gemeinsames Leben mit seiner Tochter zu führen. Zum einen weiß er, dass er sterben wird und zum anderen hat er die Chance verpasst, da seine Tochter sich bereits selbstständig versorgt und unabhängig ist.

  • Welche Bedeutung kommt dem Symbol der Streuselschnecke in der gleichnamigen Erzählung zu?

    Das titelgebende Symbol der Streuselschnecken steht als Metapher für die sich anbahnende Vater-Tochter-Beziehung, die gleich einer Schnecke zunächst klein beginnt und sich schrittweise weiter aufbaut. Auch andere Assoziationen, wie Schneckentempo und Schneckenhaus, passen in dieses Bild. Da das Verhältnis der Protagonisten sich nur sehr langsam aufbaut und lange Zeit noch distanziert ist, vollzieht sich das Kennenlernen der beiden wie im Schneckentempo. Zumindest anfänglich zögert die Ich-Erzählerin, ob sie den Mann kennenlernen soll, was sinnbildlich für das Schneckenhaus stehen kann, in welches sie sich zurückzieht, um nachzudenken. Darüber hinaus können die selbstgebackenen Streuselschnecken als Symbol für den Wunsch des Vaters nach Liebe und Geborgenheit verstanden werden.

  • Inwiefern ist die Beziehung zwischen Mann und Mädchen mehrdeutig?

    Da die Ich-Erzählerin nur erwähnt, dass der Mann sich am Telefon mit Namen vorstellt, aber bis zum Ende der Kurzgeschichte nicht preisgibt, dass es sich dabei um ihren Vater handelt, eröffnet sich für die Lesenden hier eine Leerstelle. Diese Leerstelle versuchen die Leserinnen und Leser daraufhin auf Grundlage der wenigen Informationen, die sie erhalten, zu füllen. Auf diese Weise ergibt sich zunächst ein falsches Bild der Beziehung zwischen Mann und Mädchen. Mehrere Hinweise, wie das Schminken beim ersten Treffen oder das Nachdenken über das Geld, lassen vermuten, dass es sich um eine Liebesbeziehung beziehungsweise sexuelles Verhältnis zwischen einem Mann und einem minderjährigen Mädchen oder sogar um Prostitution handelt. Erst die Nennung der tatsächlichen Identität des Mannes im letzten Satz der Kurzgeschichte führt zu einer neuen, zweiten Lesart einer Vater-Tochter-Beziehung.

  • Beschreiben Sie den Effekt, der durch die Nennung der Identität des Vaters am Schluss der Erzählung erreicht wird.

    Durch die Nennung der Identität des Vaters am Schluss der Erzählung kommt es zu einem Erwartungsbruch, da die Leserinnen und Leser zuvor in eine falsche Richtung gelenkt wurden. Gleichzeitig ist es auch ein Überraschungsmoment und eine Pointe, welche den zuvor aufgebauten Spannungsbogen zu einem Abschluss bringt. Die Auflösung am Ende macht eine Neubewertung des Gelesenen und ein mehrmaliges Lesen der Geschichte erforderlich. In der Re-Lektüre können dann die Äußerungen der Ich-Erzählerin bezüglich ihres Vaters und der sich aufbauenden Beziehung neu analysiert und interpretiert werden.

  • Wie ist der Text erzählerisch gestaltet und aufgebaut? Lassen sich Unterschiede im Erzählverhalten feststellen?

    Bei der Erzählinstanz in der Kurzgeschichte »Streuselschnecke« handelt es sich um eine personale Ich-Erzählerin, die namenlos bleibt. Das »ich« kann über die Aussagen der Erzählinstanz hinsichtlich der Tätigkeiten als »Kindermädchen« beziehungsweise »Kellnerin« (52) deutlich als weiblich eingestuft werden. Das Erzählverhalten wechselt von einem rein erzählenden Ich, das in der Rückschau berichtet, zu einem erlebenden Ich. Auf diese Weise wechselt die Perspektive zwischen zwei verschiedenen Zeitebenen. Zum einen ist es die Sicht einer erwachsenen Ich-Erzählerin und zum anderen die Figurenperspektive des Mädchens in der erzählten Zeit.

  • Beschreiben Sie das Milieu, in dem die Geschichte spielt. Inwiefern lassen sich dadurch Rückschlüsse auf die Identität des Vaters herstellen?

    Das Milieu wird zunächst auf die Stadt Berlin begrenzt, indem die Ich-Erzählerin davon spricht, dass sie dort bei Freunden wohnt. Als der Mann sie in das Café Richter am Hindemithplatz führt, der real existiert und im Westen von Berlin in Charlottenburg liegt, wird dadurch der Ort weiter eingeschränkt. Da der Vater das Café kennt, ist davon auszugehen, dass er in der Nähe lebt. Auch durch die Nennung des Filmregisseurs Éric Rohmer wird indirekt eine Verbindung zum Vater hergestellt, da dieser selbst als Drehbuchautor und Regisseur arbeitet. In einer weiterführenden Interpretation lassen sich zudem die zahlreichen Bezüge zur Biografie Julia Francks betrachten. Auch sie zieht mit dreizehn Jahren von zu Hause aus und zieht zu Freunden nach Westberlin, wo sie ihren leiblichen Vater, den Filmregisseur Jürgen Sehmisch trifft, der bald darauf an einem Hirntumor stirbt.

  • Welche Lesarten hält der Text bereit und woran lassen sich diese festmachen?

    Der Text »Streuselschnecke« von Julia Franck kann unterschiedlich gelesen und verstanden werden. Bei einer ersten Lektüre steht die naheliegende Lesart eines sexuellen Verhältnisses bzw. einer Liebesbeziehung zwischen dem Mann und dem Mädchen im Vordergrund. Dies lässt sich an verschiedenen Äußerungen und Formulierungen der Ich-Erzählerin festmachen. Beispielsweise erwähnt das Mädchen, dass es sich bei dem ersten Treffen schminkt, also Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legt, was zunächst eher auf ein Rendezvous hindeutet. Auch der Ausdruck »solche Treffen« (51) erscheint vor dem Hintergrund ihres Alters merkwürdig. Des Weiteren macht sie sich Gedanken darüber, ob der Mann ihr Geld geben wird, was sogar eine Interpretation in Richtung Prostitution glaubhaft macht. Die Bemerkung des Mannes, dass er gerne mit ihr gelebt hätte, lässt die Lesenden eventuell aufhorchen, da sie sich auf eine nicht näher erwähnte Vorgeschichte der beiden Hauptfiguren zu beziehen scheint. Im allerletzten Satz der Geschichte wird die zweite Lesart durch den Hinweis auf die wahre Identität des Mannes aufgedeckt. Anschließend kann eine wiederholte Lektüre des Textes erfolgen, bei der die eben erwähnten Textstellen entsprechend umgedeutet werden können.

  • Beschreiben Sie den besonderen Schreibstil Julia Francks und die dadurch ausgelöste Wirkung auf die Leserinnen und Leser.

    In ihrer Kurzgeschichte »Streuselschnecke« benutzt Julia Franck einen einfachen und nüchternen Schreibstil, der sich als minimalistisch-realistisch bezeichnen lässt. Die Erlebnisse werden stark gerafft und in kurzen Sätzen erzählt, was das Lesetempo erhöht. Außerdem erscheint dadurch jedes noch so kleine Detail bedeutsam. Sämtliche Dialoge werden in indirekter Rede wiedergegeben, was eine Distanz sowohl für die Lesenden als auch für die Erzählerin selbst zum Gesagten schafft. An vielen Stellen der Erzählung gibt es eine Diskrepanz zwischen der sachlichen Berichterstattung der Ich-Erzählerin und dem hochemotionalen Gehalt des Gesagten, was eine Irritation bei den Leserinnen und Lesern hervorrufen kann. Unsicherheit wird auch dadurch erzeugt, dass durch die Verwendung des einfachen Präteritums ohne zusätzliche Zeitangabe nicht ersichtlich ist, in welcher Abfolge oder wie oft einzelne Ereignisse in der Geschichte stattfinden.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.