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Streuselschnecke

Interpretation

Das Symbol der Streuselschnecke

Die »Streuselschnecke« kann als Metapher sowie als Symbol vielfach gedeutet und interpretiert werden. »Die Bezeichnung „Streuselschnecke“ enthält Anspielungen auf „Schnecke“ und den Assoziationsraum, der von diesem Wort eröffnet wird, z. B. Schneckentempo, Schneckenhaus.« (Winkler 176 f.) Es liegt nahe, sie auf die in der Kurzgeschichte entwickelte Beziehung zwischen Vater und Tochter zu beziehen, die sich langsam wie im Schneckentempo aufbaut und entwickelt. »Gleich einer Schnecke, innen, im kleinsten Kreis beginnend, zieht das Verhältnis der beiden immer größere Kreise, es wird immer besser, immer umfassender.« (Kloppert 2019) 

An mehreren Stellen der Geschichte wird, unter anderem auch durch das Erzählverhalten selbst, auf Fremdheit und Distanz zwischen den beiden Hauptfiguren verwiesen. Ein Indiz für das sich langsam aufbauende Verhältnis zwischen Vater und Tochter ist, dass sich die beiden auch nach zwei Jahren des Kennenlernens immer noch »etwas fremd« (52) sind. Dennoch kennt das Mädchen inzwischen die Vorliebe ihres Vaters für Torten, was eine deutliche Zunahme an Vertrautheit und Nähe zeigt. 

Parallel zu der langsam entstehenden Vater-Tochter-Beziehung, die am Ende der Geschichte als solche enttarnt wird, vollzieht sich auch das Verständnis der Leserinnen und Leser in einem langsamen Tempo. Schritt für Schritt erfahren die Lesenden mehr über die Hauptfiguren und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen.

Die Zurückhaltung des Mädchens gegenüber ihrem leiblichen Vater lässt sich auch auf das Bild eines Schneckenhauses beziehen, in welches sie sich zurückziehen kann, um sich selbst zu schützen. Zu dieser Deutung passt auch, dass sie ihren Vater nicht selbst um Geld bitten möchte, um sich ihre Selbstständigkeit zu bewahren. Auch die nüchterne und sachliche Erzählweise spiegelt die eingenommene Distanz zum Geschehen und den Wunsch der Ich-Erzählerin, sich nicht in den eigenen Gefühlen und Gedanken zu verlieren.

Zudem stehen die selbstgebackenen Streuselschnecken symbolisch für die Liebe, Fürsorglichkeit und Geborgenheit, die sich der Vater angesichts seines herannahenden Todes wünscht. Der Umstand, dass das Mädchen ihm diesen Wunsch sofort erfüllt, nach Hause geht und ihm geradezu überschwänglich zwei Bleche voll backt, zeigt, dass die Tochter sich diese Nähe und Liebe ebenso wünscht wie ihr Vater. Auch die Temperatur der Streuselschnecken durch den Hinweis der Erzählerin, dass sie »noch warm« (52) sind, passt in das Bild des noch nicht komplett abgekühlten Verhältnisses zwischen Vater und Tochter.

Ebenso können »der Verlust traditioneller Familienstrukturen und dessen Auswirkungen« (Schwahl 38) mit dem Dingsymbol der Streuselschnecken verknüpft werden. So ist es eventuell die Erinnerung und Rückbesinnung auf die gute, alte Zeit, die den Vater sofort an dieses Gebäck denken lässt. Damit verbunden ist die Sehnsucht und der irreale Wunsch des Vaters, dass alles wieder so wird wie früher. Doch in der Realität ist das Verhältnis zu seiner Tochter durch das lange Getrenntleben unwiderruflich gestört.

Als Symbol werden die Streuselschnecken durch die Äußerung des Vaters mit den einfachen Dingen des Lebens gleichgesetzt. Damit enthält die Kurzgeschichte zugleich eine moralische, fast schon gleichnishafte Botschaft, dass man die einfachen Dinge im Leben schätzen sollte. Da das Leben oftmals anders verläuft als geplant, ist es wichtig, im Hier und Jetzt zu leben und Dinge nicht auf später zu verschieben.

Das Spiel der zwei Lesarten

In der Kurzgeschichte »Streuselschnecke« findet ein Spiel mit den Erwartungen der Lesenden statt, die durch das Erzählverhalten und die dadurch resultierenden Leerstellen bewusst in die Irre geführt werden. »Die lch-Erzählerin entpuppt sich nämlich als unzuverlässige Instanz, die den Leser bis zu dem unauffällig platzierten Hinweis im letzten Satz [...] nicht nur im Unklaren über die Qualität ihrer Beziehung zu dem fremden Mann lässt, sondern ihn sogar auf falsche Fährten führt.« (Schwahl 38) Auf diese Weise kommt es am Schluss durch die Offenlegung der Vater-Tochter-Beziehung zu einem Erwartungsbruch und »Überraschungsmoment« (Kloppert 220), welcher auch als »Pointe« (vgl. Pietsch 114 ff.) aufgefasst werden kann, und die Erzählung im Sinne eines Spannungsbogens abschließt.

Die Ich-Erzählerin gibt im Verlauf der Handlung nur vage Hinweise auf die tatsächliche Identität des Mannes, beispielsweise über die Beschreibung des Milieus oder seiner Tätigkeit als Drehbuchautor und Filmregisseur. Zudem existieren deutliche Parallelen zur Biografie der Autorin Julia Franck, die über eine zusätzliche Recherche hergestellt werden können: Auch Julia Franck hat mehrere Schwestern und wächst ohne Vater auf. Später, als sie mit dreizehn Jahren alleine nach West-Berlin geht, trifft sie dort ihren leiblichen Vater wieder, der bald darauf schwer erkrankt und stirbt. Dieser hatte zuvor als Regisseur gearbeitet. 

Doch alleine durch die Geschichte selbst erfahren die Leserinnen und Leser erst ganz am Ende von der wahren Identität des Mannes. Die zunächst naheliegendere Lesart ist, dass es sich um eine Liebesbeziehung zwischen einem Mann und einem minderjährigen Mädchen oder sogar um Prostitution handelt. »Die Rezeptionslenkung durch die geschickt platzierten Informationen ist so stark, dass ein Vater-Tochter-Verhältnis wohl eine der letzten für denkbar gehaltenen Möglichkeiten ist.« (Kloppert 220) Gegen Ende kommen eventuell erste Zweifel bei den Lesenden auf, wenn der Mann rückblickend auf sein Leben bedauert, zu wenig Zeit mit dem Mädchen verbracht zu haben. Dennoch wirkt die Möglichkeit der ersten Lesart so stark nach, dass auch diese Äußerung des Mannes in eine andere Richtung gedeutet werden kann.

Die durch den Text aufgeworfenen Leerstellen werden durch die Vermutungen der Lesenden zunächst falsch aufgefasst und bewertet. »Der Text fordert beim ersten Lesen ein falsches Füllen der Kohärenzlücken, das erst in einer Re-Lektüre korrigiert werden kann.« (Kloppert 226) Indem Informationen bewusst vorenthalten werden, erfolgt auch eine starke Lenkung der Gefühle und Sympathien der Leserinnen und Leser im Hinblick auf die dargestellten Figuren. 

Durch das vom Text suggerierte sexuelle Verhältnis erscheint der Mann zu Beginn in einem negativen Licht. Auch das Mädchen wird zunächst falsch eingeschätzt, wenn sie äußert, dass sie den Mann nicht unsympathisch findet. »Erst mit dem letzten Satz und damit im buchstäblich letzten Moment der Kurzgeschichte ist ein Wendepunkt in der Sympathielenkung zu verzeichnen, der allerdings so beiläufig eingefügt scheint, dass er ein genaues und gegebenenfalls auch wiederholtes Lesen erfordert.« (Kloppert 227)

Dass Julia Franck in ihrer Erzählung eine solche Verschleierungstaktik anwendet, kann mehrere Gründe haben. Zum einen werden die Geschehnisse aus Sicht der Ich-Erzählerin nicht nur bloß sachlich berichtet, sondern die Geschichte enthält durch ihre Mehrdeutigkeit einen deutlichen Spannungsbogen, der am Schluss durch die Enthüllung des Vaters wieder neue Fragen aufwirft und eine Re-Lektüre der Geschichte erforderlich macht. Dadurch regt Franck die Leserinnen und Leser ihrer Erzählung zum Nach- und Weiterdenken an. 

Zum anderen sind auf diese Weise die Bezüge zu ihrer eigenen Biografie nicht von Vornherein gegeben. Interessant ist vor diesem Hintergrund auch, dass die Autorin ihren Figuren keine Namen gibt. Insofern können die Eigenschaften der Personen und das Beziehungsgeflecht einer zerrütteten Familie beispielsweise auch auf den historischen Kontext der Wiedervereinigung bezogen werden.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.