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Streuselschnecke

Teil 2

Zusammenfassung

Der zweite Abschnitt der Kurzgeschichte wird durch einen Zeitsprung von zwei Jahren in der erzählten Zeit markiert. Dadurch wird das weitere Kennenlernen zwischen der mittlerweile sechzehnjährigen Ich-Erzählerin und ihrem Vater ausgeblendet und der Fokus richtet sich auf die Trennung der beiden, die durch die Nachricht über die unheilbare Krankheit des Vaters jäh in Aussicht gestellt wird.

Auch zwei Jahre später empfindet die Ich-Erzählerin das Verhältnis zu ihrem Vater immer noch als fremd und distanziert. Dennoch vertraut er ihr an, dass er sehr krank ist. Die genauen Umstände der Krankheit bleiben unerwähnt. Allerdings wird unmissverständlich deutlich, dass es sich um eine tödliche Krankheit handelt.

Der Sterbeprozess des Mannes dauert ein Jahr. In dieser Zeit besucht die Tochter ihren Vater im Krankenhaus und fragt, welchen Wunsch er habe. Daraufhin erwidert der Vater, dass er sich mit Morphium betäuben und umbringen möchte, weil er sich vor einem schmerzhaften Tod fürchte. Er wolle nicht warten, bis es soweit sei, sondern möglichst schnell und ohne viel Leid sterben.

Aus diesem Grund fragt der Mann seine Tochter, ob sie ihm helfen und ihm das ersehnte Morphium bringen könne. Die Ich-Erzählerin denkt über seine Bitte nach. Obwohl sie Freunde hat, die in der Drogenszene aktiv sind, kennt sie doch niemanden, den sie nach dem Morphium fragen könnte. Außerdem hat sie Angst vor den Konsequenzen, wenn man sie im Krankenhaus mit den Drogen erwischen oder entdecken würde, woher das Morphium kommt.

Die Bitte des Vaters gerät zunächst in Vergessenheit. Zu manchen Besuchen bringt die Tochter ihm Blumen mit. Als der Vater sein Verlangen nach dem Morphium erneut äußert, wechselt die Tochter das Thema. Da sie inzwischen weiß, wie gerne er Torte mag, fragt sie ihn, was sie ihm mitbringen kann. Daraufhin entgegnet der Vater, dass er sich nur Streuselschnecken wünsche, da ihm die einfachen Dinge momentan die liebsten seien. Die Tochter erfüllt ihm diesen Wunsch und backt ihm zwei Bleche Streuselschnecken, die sie ihm frisch und noch warm ins Krankenhaus mitbringt.

Gegen Ende seines Lebens reflektiert der Mann, was er gerne alles noch gemacht hätte und äußert sein Bedauern gegenüber dem Mädchen. Er wünscht sich, er hätte mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen können. Gerne hätte er mit ihr gelebt und in irgendeiner Form eine Beziehung zu ihr gehabt. Leider sei es dafür aufgrund seiner schweren Krankheit nun zu spät.

Als der Mann schließlich stirbt, ist die Ich-Erzählerin siebzehn Jahre alt. Für die Beerdigung kommt ihre jüngere Schwester nach Berlin und begleitet sie zur Trauerfeier. Die Mutter reist nicht an und bleibt der Beerdigung fern, weil sie nach Aussage der Ich-Erzählerin zu sehr beschäftigt sei und den »Vater zu wenig gekannt und nicht geliebt« habe (52). Durch diesen Hinweis der Ich-Erzählerin stellt sich erst ganz am Ende der Geschichte heraus, dass der Mann und das Mädchen eigentlich Vater und Tochter sind.

Analyse

Während im ersten Teil der Geschichte der allmähliche Aufbau der Beziehung zwischen Vater und Tochter im Vordergrund steht, beschäftigt sich der zweite Teil mit dem bevorstehenden Tod des Vaters. Der neue Abschnitt wird wieder rückblickend durch das erzählende Ich eingeleitet: »Zwei Jahre später, der Mann und ich waren uns noch immer etwas fremd, sagte er mir, er sei krank.« (52) Trotz der gemeinsam verbrachten Zeit bleibt der anfängliche Eindruck der Fremdheit bestehen, wird jedoch durch das Wort »etwas« abgeschwächt. Die Tatsache, dass der Mann dem Mädchen von seiner Krankheit erzählt, spricht für ein tieferes Vertrauen der beiden zueinander, was zu beiden möglichen Lesarten passt.

Im Folgenden kehrt sich auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität um und es vollzieht sich ein »Rollenwechsel« (Kloppert 216). Anders als im ersten Abschnitt der Geschichte, in dem der Mann das Mädchen aktiv in das Café Richter führt und sie ins Restaurant mitnimmt, verfällt er nun in eine Leidensrolle, wohingegen das Mädchen sich aktiv um ihn sorgt und kümmert. Die Frage nach den Wünschen des Mannes zeigt »die Bedeutsamkeit, die das Mädchen dem Mann beimisst« (Kloppert 216).

Die Wendung »Er starb ein Jahr lang« (52) lässt auf eine schmerzhafte Krankheit schließen, deren Ausgang mit dem Tod des Mannes markiert ist. Zudem signalisiert dieser Ausdruck eine starke Zeitraffung, in der das Sterben und das damit ausgelöste Leid im Mittelpunkt der Handlung steht. Vor diesem Hintergrund erscheint die geäußerte Todesangst für die Lesenden nachvollziehbar und schafft einen kurzen Moment des Mitgefühls und Verständnisses für das Leiden des Vaters.

Irritierend wirkt hingegen die Bitte des Mannes, dass das Mädchen ihm Morphium bringen soll. Gerade vor dem Hintergrund, dass er der Vater des Mädchens ist, erscheint eine solche Frage nach einer illegalen Handlung wenig verantwortungsbewusst und im Hinblick auf die Gefühle der Tochter zudem herzlos und verletzend. »Schließlich bittet der Mann ein sechzehnjähriges Mädchen nicht nur, ihm Drogen zu beschaffen, sondern, je nach Lesart, ihm dadurch auch bei seinem Freitod zu helfen.« (Kloppert 216) Auf der anderen Seite drückt diese Bitte wiederum ein großes Vertrauen aus. Offenbar vertraut der Mann dem Mädchen mehr als seinen Freunden, die im Kontext seiner Erkrankung und des dadurch bedingten Todes unerwähnt bleiben.

Die Überlegungen des Mädchens angesichts der geäußerten Bitte des Vaters zeigen, dass sie ihm wirklich helfen möchte und auch Sympathie für ihn empfindet. Das Gefühl der Fremdheit wird hier zusehends durch einen Eindruck von Nähe abgelöst. Denn wenn sie ihn nicht mögen würde, hätte sie wohl kaum über seine Bitte nachgedacht. »Letzten Endes ist es die Sorge vor rechtlichen Konsequenzen, die das Mädchen davon abhalten, dem Wunsch nachzukommen.« (Kloppert 217) Dadurch, dass das Mädchen Freunde erwähnt, die Drogen nehmen, wird ein weiterer Hinweis auf das Milieu gegeben, in dem die Jugendliche sich bewegt.

Die anschließende Reaktion des Mädchens erscheint nahezu absurd und unglaubwürdig angesichts der geäußerten Todessehnsucht ihres Vaters: »Ich vergaß seine Bitte. Manchmal brachte ich ihm Blumen.« (52) In dieser Aneinanderreihung der Aussagen wirkt das Schenken der Blumen fast schon wie eine »Ersatzhandlung« oder »Entschuldigung für das nicht gegebene Morphium« (Kloppert 217). Dass es sich nicht um Vergessen, »sondern vielmehr um Ignorieren handelt« (Kloppert 217) wird auch durch die folgende antithetische Äußerung der Ich-Erzählerin deutlich: »Er fragte nach dem Morphium und ich fragte ihn, ob er sich Kuchen wünsche, schließlich wusste ich, wie gern er Torte aß.« (52) Anstatt auf die abermals geäußerte Bitte zu antworten, wechselt die Protagonistin das Thema. Das Wissen um die Vorliebe des Mannes ist ein weiteres Indiz dafür, »dass sich das Verhältnis
zwischen beiden vom Fremden zum Bekannten gewandelt hat«. (Kloppert 218)

Die Bitte nach dem todbringenden Morphium wird auf diese Weise durch den bloßen Wunsch des Mannes nach Streuselschnecken ersetzt. Dieses titelgebende Motiv verkörpert für den Mann »die einfachen Dinge« (52) des Lebens, an denen er sich nun festhalten möchte. Anstatt weiter über den Tod nachzudenken, orientiert er sich an dem, was ihm noch bleibt. Damit verbunden ist seine Sehnsucht nach Geborgenheit und eine mögliche Vertrautheit mit dem Mädchen, die er sucht. Diesen Wunsch im doppelten Sinne scheint ihm das Mädchen auch erfüllen zu wollen, da es sofort nach Hause geht und die Streuselschnecken backt.

An dieser Stelle wird durch die wiedergegebene Äußerung des Mannes deutlich, dass es sich bei den beiden Hauptpersonen nicht nur um Fremde oder bloße Bekannte handelt: »Er sagte, er hätte gerne mit mir gelebt, es zumindest gerne versucht, er habe gedacht, dafür sei noch Zeit, eines Tages – aber jetzt sei es zu spät.« (52) Diese Mitteilung passt nicht so recht zu der Lesart der Liebesbeziehung, da der Mann hier etwas bereut, was in der weiter entfernten Vergangenheit nicht eingetreten ist. Das tief empfundene Bedauern des Mannes über die verlorene Zeit und der Irrglaube, man habe für ein Kennenlernen noch genügend Zeit, führt schrittweise zu einer »Neubewertung bzw. Neueinschätzung des Verhältnisses« (Kloppert 219) der beiden Hauptfiguren.

Ein weiterer Zeitsprung vollzieht sich im Anschluss an die Äußerung des Mannes und lässt diese unkommentiert stehen. Der Tod des Vaters wird wieder neutral und nüchtern aus der Perspektive des erzählenden Ichs berichtet: »Kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag war er tot.« (52) Erst im letzten Satz der Kurzgeschichte erhalten die Leserinnen und Leser endlich Klarheit über das tatsächliche Verhältnis der beiden Protagonisten und die Identität des Mannes. Ihr Kennenlernen und der Aufbau ihrer Beziehung als Vater und Tochter dauert insgesamt drei Jahre, vom Anruf bis zum Tod des Vaters durch die Krankheit. Während die Schwester der Ich-Erzählerin extra für die Beerdigung nach Berlin anreist, kommt die Mutter nicht, was auf tiefgreifende und nicht gelöste Konflikte in der Familie schließen lässt. Diese werden jedoch nicht explizit benannt.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.