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Streuselschnecke

Sprache und Stil

Julia Franck verwendet in ihrer Kurzgeschichte »Streuselschnecke« eine sehr einfache und direkte Alltagssprache, die ohne viele Ausschmückungen auskommt. Der Schreibstil kann als minimalistisch und realistisch bezeichnet werden. In stark geraffter Form werden die Erlebnisse in der Rückschau berichtet. Dadurch erscheint jede einzelne Äußerung der Ich-Erzählerin besonders bedeutsam. Dies eröffnet wiederum Interpretationsspielräume, die vor allem durch das Nicht-Gesagte, also die sogenannten Leerstellen und »Kohärenzlücken« (Kloppert 225), in der Kurzgeschichte möglich gemacht werden.

Nur an wenigen Stellen der Kurzgeschichte verweist die Ich-Erzählerin auf ihre Gedanken und Gefühle und kommentiert ihre Wahrnehmungen. Dabei kommen sprachlich interessante Wendungen zum Einsatz. Ein Beispiel ist das ironische Lächeln, welches der Vater zwischen sich und die anderen Menschen zieht (vgl. 51). Die eigenartige Kombination aus dem Nomen »Lächeln« und dem Verb »ziehen« verdeutlicht die Distanz, die zwischen dem Vater und seinen vermeintlichen Freunden herrscht. Weiterhin ist der Ausdruck »Er starb ein Jahr lang [...].« zu nennen, der das leidvolle Sterben des Vaters in den Vordergrund rückt.

Charakteristisch für die Erzählungen Julia Francks ist ein »dialogischer Stil« (Biendarra 214), der auch in der »Streuselschnecke« zur Anwendung kommt. Allerdings erscheinen hier sämtliche Dialoge in indirekter Rede. Auffällig ist die häufige Verwendung der beiden Verben »fragen« und »sagen«, mit denen die indirekten Aussage- und Fragesätze jeweils eingeleitet werden. Dies ist ein weiteres Kennzeichen für den schlichten und auf das Wesentliche reduzierten Erzählstil Julia Francks. Außerdem schafft die indirekte Rede sowohl für die Erzählerin als auch für die Lesenden eine Distanz zum Geschehen.

Ein weiteres Merkmal des Minimalismus bei Franck ist die Verwendung kurzer Sätze. Wenn in der Mehrzahl Hauptsätze verwendet und diese oftmals durch Kommata oder die Konjunktion »und« aneinandergereiht werden, spricht man von einem parataktischen Stil. Hypotaxen, also die Unterordnung von Sätzen innerhalb von Nebensätzen, tauchen seltener auf. Auch die häufige Verwendung der Personalpronomen »ich« und »er« ist Ausdruck des minimalistischen Stils. Auf diese Weise bleiben alle erwähnten Figuren in der Geschichte namenlos.

Die verwendete Erzählperspektive in der Kurzgeschichte ist ein personaler Ich-Erzähler. Durch die im Verlauf der Kurzgeschichte genannten Berufsbezeichnungen »Kindermädchen« und »Kellnerin« (52) wird deutlich, dass es sich um eine weibliche Erzählinstanz handelt. Nach einer kurzen Einleitung von etwa zwei Sätzen wechselt die rückwärtsgewandte Erzählperspektive einer möglicherweise bereits erwachsenen Person in eine Figurenperspektive. Allerdings wird diese teilweise mit der rein erzählenden Perspektive durchmischt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn lange Zeiträume in der Rückschau benannt werden, die dem erlebenden Ich aus Sicht des Mädchens so nicht bewusst sein können. Auch die veraltete Verbform »buk« (52) drückt eine Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich aus.

Kurz vor Ende des ersten Teils der Erzählung wechselt die Ich-Erzählerin von einer reinen Wiedergabe des Gesagten in die erlebte Figurenrede: »Schlimm war das nicht, schließlich kannte ich ihn kaum, was sollte ich da schon verlangen?« (51 f.) Hier verlieren die Leserinnen und Leser am meisten Distanz zur Protagonistin und können unmittelbar an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Durch den anschließenden Zeitsprung und den Wechsel zum erzählenden Ich, das wieder distanziert aus der Rückschau berichtet, werden die Lesenden aus dieser maximalen Annäherung plötzlich herausgerissen und erfahren sachlich vom bevorstehenden Tod des Mannes. Hier wie auch an weiteren Stellen der Erzählung stehen der hochemotionale Gehalt des Gesagten und die nüchterne Berichterstattung durch die Erzählinstanz im Widerspruch zueinander.

Eine weitere Eigenart, die den Text »Streuselschnecke« stark prägt, ist die Unsicherheit, ob die Verben im Präteritum im Sinne eines einmalig stattfindenden Ereignisses oder im Sinne eines wiederkehrenden Ereignisses gebraucht werden. So könnte der Ausdruck »Wir verabredeten uns.« (51) sich nur auf die erste Verabredung oder auch auf viele weitere beziehen. Auch wird durch die Satzreihung »Er starb ein Jahr lang, ich besuchte ihn im Krankenhaus und fragte, was er sich wünsche.« (52) nicht deutlich, wie oft die Protagonistin ihren Vater tatsächlich im Krankenhaus besucht und ob sie ihre Frage sofort oder vielleicht erst nach einigen Besuchen stellt. 

Der Verzicht auf zusätzliche Zeitangaben könnte mit dem Verschwimmen von Erinnerungsbruchstücken der Ich-Erzählerin zusammenhängen, da davon auszugehen ist, dass das Erzählte längere Zeit in der Vergangenheit zurückliegt und sie sich nicht mehr an jedes Detail erinnern kann. Außerdem erhöht die Aneinanderreihung von kurzen Hauptsätzen nicht nur das Lesetempo, sondern auch die Spannung bis zur Auflösung des Verhältnisses der Hauptfiguren im letzten Satz der Geschichte.

Wiederkehrende Themen in Julia Francks Erzählungen sind die komplexen Beziehungen zwischen den handelnden Personen. Zentrale Motive wie Familie, Liebe, Fremdheit, Tod und Vergänglichkeit bestimmen deshalb auch die Kurzgeschichte »Streuselschnecke«.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.